Prune Antoine – Eine Frau in Deutschland
Ich hatte Schwierigkeiten mit diesem Buch. Am Anfang mochte ich es nicht besonders. Prune Antoines Idee etwas zwischen Tatsachenbericht und Fiktion zu machen, finde ich eigentich überzeugend. Ausgeführt ist sie, zumindest auf den ersten Seiten, schlecht.
Am nächsten Morgen lese ich weiter und denke, dass es vielleicht doch ganz interessant ist, dass sie die „Kindesmörderin“ neben die Gesetze die Abtreibung betreffend, stellt. Dass das ein kluger Schachzug ist.
Aber vielleicht erst einmal ein wenig Hintergrund zum Buch vorweg. Prune Antoine, eine französische Journalistin, die seit vielen Jahren in Deutschland lebt, hat der Fall der Christiane K., die 2020 in Solingen fünf ihrer sechs Kinder tötete, nicht losgelassen. Sie hat recherchiert, mit den Anwälten von Christiane gesprochen und sie schließlich selbst besucht.
Es geht in diesem Buch nicht darum, die Tat zu entschuldigen, zu behaupten Christiane K. sei unschuldig. Es geht vielmehr darum aufzudecken, wer mitverantwortlich ist für die Tat. Die Ignoranz gegenüber den sexuellen Übergriffen die Christiane als Kind erfahren hat, vermutlich vom Vater, die sie aber nie klar beweisen und benennen konnte weil sie dissoziiert hat, um zu überleben. Ihre Selbstmordversuche als Hilferufe, die ebenfalls nicht viel bewirkt haben. Ihre heillose Überforderung alleinerziehend mit 6 Kindern während der Pandemie. Väter, die keine Verantwortung für die Kinder übernahmen.
Vielleicht sogar unsere große gesellschaftliche Ignoranz, die aus einer Frau, die ihre Kinder tötet sofort ein Monster macht. Die nicht wahrhaben will, das Kindestötungen keine monströsen Ausnahmen sind, sondern eben gerade nicht selten. Antoine schreibt: „Schätzungen zufolge werden in Deutschland jährlich zwischen hundert und hundertfünfzig Kinder von einem ihrer Elternteile getötet. In Frankreich wird im Durchschnitt alle fünf Tage ein Kind umgebracht, eine relativ konstante Zahl.“ (S. 55)
Christianes ganzes Leben, schreibt Antoine, wurde von Gewalterfahrungen geprägt. „[…] einer straffreien, geduldeten und systematischen Gewalt, die sie überwältigt hat und die Christiane letztlich dazu gebracht hat, sich gegen sich selbst und ihre Kinder zu richten.“ Solche Sätze sind schwer auszuhalten, sie einfach abzutun ist nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr möglich.
„Christianes Leben hätte niemals so geendet, wenn es gerechte Gesetze für unseren Frauenkörper gäbe, Gesetze, die vor Vergewaltigungen, Inzest und Männerschlägen schützen.“
Was dieses Buch außerdem leistet, ist auch das Aufdecken einer Geschlechterungerechtigkeit im Strafmaß, in der Beurteilung durch Gerichte und Gutachter. Obwohl Frauen nur einen sehr geringen Teil der Taten begehen, werden sie härter bestraft, unnachsichtiger beurteilt. Auch hier scheint das Patriarchat noch sehr präsent, ist auf dem Weg zur Gleichberechtigung noch viel zu tun. „Die in der Entstehung begriffene neue Disziplin der feministischen Kriminologie zeigt, dass Frauen nicht auf dieselbe Weise töten wie Männer.“
Antoine, die immer wieder im Buch die eigene Mutterschaft mit dem Fall der Christiane K. kurzschließt, folgert: „Ich weiß jetzt, dass der Gedanke, alles haben zu können, die größte Lüge des Kapitalismus ist. Es ist schlicht falsch. In der Mutterschaft schwingt ein Hauch Klassenkampf mit. Wenn eine Frau Geld hat, um sich ihr Dorf zu schaffen, wenn sie der traditionellen, durch die Lohnungleichheit gestützten Rollenverteilung entgehen kann, wenn sie reich genug ist, um den Mangel an Kitas, Schulen und die Defizite der Familienpolitik aufzufangen, dann ist die Mutterschaft sicherlich die schönste Rolle des Lebens. Für die anderen Mütter heißt es, friss oder stirb.“
Ein feministisches Buch, aber auch ein Buch, das aufdeckt, dass wir sehr schnell bereit sind, Täter als Monster abzustempeln, als Menschen, die weder Würde verdienen, noch die Mühe, sie zu verstehen.
#ChristianeK_ #EineFrauInDeutschland #Lesetagebuch #Mutterschaft #PruneAntoine #Solingen