Podiumsdiskussion zur akademischen Freiheit mit Einblicken aus Deutschland und der Ukraine
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Die TIB – Leibniz-Informationszentrum für Technik und Naturwissenschaften und Universitätsbibliothek organisierte eine Podiumsdiskussion zum Thema „Perspektiven der Wissenschaftsfreiheit“, die im Rahmen der 3. Internationalen Konferenz „Open Science and Innovation in Ukraine 2024“ (OSICU 2024) anlässlich des Deutschen Wissenschaftsjahres 2024 – Wissenschaftsfreiheit stattfand. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte das Panel. Die Konferenz wurde von 816 Teilnehmern besucht.
Während der Podiumsdiskussion diskutierten Wissenschaftler:innen aus der Ukraine und aus Deutschland über die Rolle der akademischen Freiheit, ihre Herausforderungen und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaft. Die Podiumsdiskussion moderierte die Journalistin Eva Wolfangel, die Teilnehmenden waren: Serhiy Kvit (Nationale Universität Kiew-Mohyla Akademie, Ukraine), Karsten Schubert (Humboldt-Universität zu Berlin, Deutschland), Torsten Wilholt (Institut für Philosophie der Leibniz Universität Hannover), Amrei Bahr (Universität Stuttgart), Anatoliy Oleksiyenko (Centre for Higher Education Leadership and Policy Studies) und Olena Orzhel (Institut für Hochschulbildung der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine).
Eine vollständige Aufzeichnung der Podiumsdiskussion ist im TIB AV-Portal verfügbar.
- Oktober 2024: Diskussionsteilnehmer:innen der Podiumsdiskussion „Perspektiven der akademischen Freiheit“ auf der internationalen Konferenz „Open Science and Innovation in Ukraine 2024“ (online)
Die Podiumsdiskussion begann mit Begrüßungsworten von Vertreter:innen des ukrainischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft und des BMBF, die die Bedeutung der akademischen Freiheit für Innovation, Bildung und internationale Zusammenarbeit hervorhoben.
Kein Fortschritt in Wissenschaft und Bildung ohne akademische Freiheit
Oksana Berezhna (Generaldirektorin der Abteilung für Innovation und Wissenschaft in Verbindung mit dem Realsektor der Wirtschaftsdirektion des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft der Ukraine) unterstrich die entscheidende Bedeutung der akademischen Freiheit für die Entwicklung des interkulturellen Dialogs und den Fortschritt in Wissenschaft und Bildung. Sie beschrieb die Bemühungen der Ukraine, die akademische Freiheit durch strategische Gesetzesänderungen und Reformen zu stärken. Unter den Initiativen des Ministeriums erwähnte Berezhna die Entwicklung eines neuen politischen Rahmens für die Priorisierung von Forschung und Innovation, einschließlich experimenteller Forschung. Sie zeigte sich zuversichtlich, dass die Podiumsdiskussionen eine Grundlage für die weitere Verbesserung der akademischen Freiheit sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland sowie für die Entwicklung der globalen Zusammenarbeit durch offene Wissenschaft und Innovation bilden werden.
Förderung der bilateralen wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit der Ukraine
Florian Frank Referatsleiter des BMBF-Referates „Zusammenarbeit mit den Staaten des östlichen Europas (ohne EU), Südkaukasus, Zentralasiens“ bekräftigte als Vertreter des BMBF das starke Engagement Deutschlands für die akademische Freiheit und seine wichtige Rolle bei der Ermöglichung kreativer und produktiver internationaler Partnerschaften. Er wies darauf hin, dass Deutschland bis 2029 100 Millionen Euro für die bilaterale wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der Ukraine zur Verfügung gestellt hat und bekräftigte, dass es die ukrainischen Wissenschaftler:innen trotz des anhaltenden Krieges weiterhin unterstütze. Frank ging auch auf die Bedeutung der wissenschaftlichen Vielfalt ein und wies darauf hin, dass eine breitere Beteiligung an der Forschung von entscheidender Bedeutung für die Bewältigung drängender globaler Herausforderungen, einschließlich der Klimakrise, sei. Er betonte, dass die Förderung der akademischen Freiheit zusammen mit einem aktiven wissenschaftlichen Austausch von grundlegender Bedeutung ist, um innovative Lösungen zu finden und die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern zu vertiefen.
Ukrainische Universitäten müssen ihr Potenzial als unabhängige Institutionen voll ausschöpfen
Serhiy Kvit, Präsident der Nationalen Universität Kiew-Mohyla Akademie, eröffnete die Diskussion mit seinem Vortrag „The University as a Mass Medium: Academic Freedom in Ukraine“.
In seinem Vortrag erläuterte Kvit den historischen Kontext der akademischen Freiheit in der Ukraine und konzentrierte sich dabei auf das Erbe der zentralisierten Kontrolle aus der Sowjetzeit, die die Autonomie von Universitäten stark einschränkte. Er erläuterte, dass die Ukraine nach ihrer Unabhängigkeit bedeutende Reformen einleitete, um das Hochschulsystem mit europäischen Standards in Einklang zu bringen, einschließlich der Teilnahme am Bologna-Prozess und der Gewährung einer größeren Autonomie für die Universitäten. Der anhaltende Krieg in der Ukraine hat diese Bemühungen jedoch stark gefährdet. Trotz dieser Herausforderungen betonte Kvit die Beharrlichkeit der ukrainischen Universitäten und ihr Engagement, Bildungs- und Forschungsaktivitäten fortzusetzen.
[00:18:09] „And what we can say about the prospects of academic freedoms in Ukraine, what is the whole task for Ukrainians? First of all, we need to implement the concept of comprehensive university autonomy, especially in terms of financial autonomy. I talked about that and I think it’s crucial“ – Serhiy Kvit
Er betonte auch die Bedeutung von Strukturreformen und die Notwendigkeit, den Universitäten – insbesondere in finanziellen Angelegenheiten – umfassende Autonomie zu gewähren. Laut Kvit ist dies entscheidend dafür, dass die ukrainischen Universitäten ihr Potenzial als unabhängige Institutionen voll ausschöpfen und ihre interne Kultur stärken können.
Aktuelle Debatten zur akademischen Freiheit in Deutschland
In seinem Vortrag „Two Concepts of Academic Freedom“ analysierte Karsten Schubert von der Humboldt-Universität zu Berlin die aktuellen Debatten um akademische Freiheit in Deutschland, die von Diskussionen über Identitätspolitik, Stempelkultur und staatliche Eingriffe geprägt sind.
Schubert präsentierte eine eingehende Analyse der philosophischen und rechtlichen Grundlagen der akademischen Freiheit in Deutschland, wobei er sich auf zwei Konzepte der akademischen Freiheit konzentrierte: Das „negative“ Konzept, das sich auf die Freiheit von Einmischung konzentriert, und das „kritische“ Konzept, das die Bedeutung der Einbeziehung marginalisierter Stimmen und der Beseitigung systemischer Machtungleichgewichte innerhalb der akademischen Welt anerkennt. Er verfolgte die Ursprünge der akademischen Freiheit in Deutschland bis zum Humboldt‘schen Modell der Hochschulbildung, das im 19. Jahrhundert eingeführt wurde und die Einheit von Lehre und Forschung sowie die Autonomie der Universitäten betont.
Schubert betonte die Schlüsselrolle der akademischen Freiheit für die Entwicklung von Innovationen und die Aufrechterhaltung der Demokratie und beschrieb die Zeiten, in denen sie unterdrückt wurde, wie zum Beispiel während des Nazi-Regimes. Er stellte fest, dass die Wiederherstellung der akademischen Autonomie in der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der modernen deutschen Hochschulbildung gespielt hat. Er wies jedoch auch auf die aktuellen Herausforderungen hin, denen sich die Hochschulen gegenübersehen, darunter politische Polarisierung, gesellschaftliche Erwartungen und die zunehmende Kommerzialisierung der Forschung. Er betonte auch die Bedeutung des internationalen Dialogs und der offenen Wissenschaft als Instrumente zum Schutz der akademischen Freiheit auf globaler Ebene.
[00:34:18] „Academic freedom can be justified both on epistemological grounds – that free academia does a better job in producing relevant knowledge – and on political grounds, as free academia is necessary for democracy because it provides citizens with knowledge they need to develop informed political positions“ – Karsten Schubert
Er verfolgte weiterhin die Entwicklung der Debatten um die akademische Freiheit in Deutschland, von der Sorge um interne Herausforderungen wie die „Cancel Culture“ bis hin zu ernsthaften Vorwürfen der staatlichen Einmischung, wie jüngste Kontroversen beim BMBF zeigen. Schubert warnte davor, unzulängliche Konzepte akademischer Freiheit zur Rechtfertigung politischer Agenden zu verwenden, da dies ungewollt neue Bedrohungen für genau die Freiheit schaffen könnte, die sie zu schützen versuchen.
Podiumsdiskussion zu über Perspektiven der akademischen Freiheit
Die Podiumsdiskussion wurde eröffnet mit Olena Orzhel. Sie begann ihre Ausführungen mit dem Hinweis auf die dringende Notwendigkeit für ukrainische Universitäten, sich „neu zu konzipieren, neu zu starten und neu zu transformieren“, um den Herausforderungen der postsowjetischen paternalistischen Traditionen, der Selbstzensur und dem Mangel an Ressourcen zu begegnen.
Mit Blick auf das Fehlen von Pluralismus und offenem Diskurs in der ukrainischen Wissenschaft forderte sie einen Kulturwandel, um akademische Freiheit und Verantwortung zu fördern.
„We lack many things like institutional environment, funding, and resources. We need, as Karsten said, an ethos for open discussion. We do not have the plurality – social, epistemological, or political– in our academic discourse“ – Olena Orzhel
Orzhel forderte die Universitäten auf, eine stärkere Rolle in der Öffentlichkeit zu übernehmen und sich neben der starken ukrainischen Zivilgesellschaft und den Medien stärker und aktiver an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen. Abschließend betonte sie, dass die akademische Freiheit mit einem gewissen Verantwortungsbewusstsein einhergehen müsse, und forderte die Universitäten auf, einen sinnvollen gesellschaftlichen Wandel anzuführen.
Auswirkungen des sowjetischen Erbes auf die ukrainischen Hochschulen
Die Podiumsdiskussion wurde mit den weiteren Teilnehmenden fortgesetzt, die die von Kvit und Schubert vorgestellten Themen vertieften. Oleksiyenko fokussierte auf die anhaltenden Auswirkungen des sowjetischen Erbes auf die ukrainischen Hochschulen und darauf, wie diese den Wandel behindern. Er beschrieb, wie die autoritären Strukturen der Vergangenheit immer noch in der physischen und institutionellen Gestaltung der Universitäten sichtbar sind.
„The Soviet legacy is not just a memory of the past – it is embedded in the structures of our universities, from the architecture to the administrative systems. These structures sustain an authoritarian mindset that is difficult to overcome“ – Anatoliy Oleksiyenko
Oleksiyenko betonte auch, wie wichtig es ist, eine Kultur der Aufrichtigkeit und der kritischen Selbstreflexion in der akademischen Welt zu fördern, und wies darauf hin, dass es bei der akademischen Freiheit nicht nur darum geht, die Machthaber herauszufordern, sondern auch darum, gegenüber der eigenen Gemeinschaft ehrlich zu sein.
„Academic freedom is about telling the truth – not just to power but to ourselves and our community. We must be willing to address sensitive issues openly if we are to create a new academic culture“ – Anatoliy Oleksiyenko
Abschließend hinterfragte er die Rolle der akademischen Freiheit und den Zweck, dem sie dient, und rief dazu auf, die akademischen Werte stärker in die Gesellschaft zu integrieren, anstatt sie auf die Universitäten zu beschränken.
„What is academic freedom for? It must be connected to society and the democratic development of an inclusive environment. Academic freedom cannot stay confined within university walls“ – Anatoliy Oleksiyenko
Wie systemische Probleme die akademische Freiheit bedrohen können
Auf deutscher Seite erörterte Amrei Bahr, wie systemische Probleme im akademischen Bereich, insbesondere in Deutschland, die akademische Freiheit bedrohen. Sie betonte die Herausforderungen, die sich durch prekäre Arbeitsbedingungen ergeben, und wies darauf hin, dass die weitverbreitete Verwendung befristeter Verträge Abhängigkeiten schafft, die junge Akademiker:innen davon abhalten, offen Kritik zu äußern oder sich an politischen Debatten zu beteiligen.
„In Germany, 92% of researchers under the age of 45 who do not hold a professor position are on fixed-term contracts. These short contracts make you heavily dependent on certain people in the system, and if they are unhappy with you, your entire career might end before you even finish your PhD“ – Amrei Bahr
Bahr kritisierte auch die „publish or perish“-Kultur und die Abhängigkeit von der Finanzierung durch Drittmittel, die Forschende dazu zwinge, der Sicherung der Finanzierung Vorrang vor einer genuinen wissenschaftlichen Auseinandersetzung einzuräumen. Sie forderte eine höhere Grundfinanzierung der Universitäten als notwendigen Schritt zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zum Abbau von Bürokratie, um letztlich ein Umfeld zu schaffen, das der akademischen Freiheit förderlich ist.
Die philosophische und strukturelle Komplexität der akademischen Freiheit
Thorsten Wilholt untersuchte die philosophische und strukturelle Komplexität der akademischen Freiheit und betonte ihre vielfältigen Dimensionen, darunter die Freiheit, Forschung zu betreiben, die Freiheit von Einmischung und das Gleichgewicht zwischen individuellen und institutionellen Bedürfnissen.
„Academic freedom is not one thing – it is many things. Freedom to do what? Freedom from what? And who is the subject of this freedom: the individual researcher, the institution, or the research field itself?“ – Thorsten Wilholt
Wilholt kritisierte das „negative“ Konzept der akademischen Freiheit, das sich eng auf die Abwesenheit von Einmischung konzentriert und dabei systemische Probleme wie ungleiche Finanzierung und Ressourcenverteilung außer Acht lässt. Er betonte die wichtige Rolle der Universitäten bei der Förderung einer demokratischer Kultur, indem sie Lehre und Forschung miteinander verbinden und dafür sorgen würde, dass die Studierenden die Fähigkeit zum kritischen Denken und zur Infragestellung gesellschaftlicher Normen entwickeln.
Die Diskussion zwischen den Podiumsteilnehmer:innen berührte zentrale Themen wie die Finanzierungskrise im akademischen Bereich, das Fortbestehen überholter Traditionen und die Bedeutung der Schaffung einer Kultur des offenen Dialogs und der Debatte. Orzhel und Bahr betonten beide die Notwendigkeit von Demokratie innerhalb der Universitäten, wobei Bahr auf die schädlichen Auswirkungen hierarchischer Machtstrukturen hinwies und Orzhel eine Diskussionskultur forderte, in der Nachwuchswissenschaftler ihre Vorgesetzten hinterfragen können.
„We cannot move forward if research simply repeats patterns from 50 or 70 years ago“ – Olena Orzhel
„Freedom of research is restricted when young academics feel they cannot critique their colleagues or supervisors“ – Amrei Bahr
Oleksiyenko warf die Frage der akademischen Integrität und die Gefahren der Verwendung von Finanzmitteln ohne Rechenschaftspflicht auf und stellte fest, dass Geld allein nicht ausreicht, um sinnvolle Veränderungen zu bewirken. Wilholt schloss sich diesen Bedenken an und stellte fest:
„The debates about academic freedom often overlook the systemic inequalities in funding and resource allocation, which limit the potential for truly innovative and independent research“ – Anatoliy Oleksiyenko
Auf dem Podium wurde auch die Rolle der akademischen Freiheit bei der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen erörtert. Wilholt hob erkenntnistheoretische und demokratische Rechtfertigungen für die Wissenschaftsfreiheit hervor und argumentierte, dass sie nicht nur für die Schaffung von Wissen, sondern auch für die Unterstützung demokratischer Gesellschaften unerlässlich sei. Oleksiyenko warf die Frage auf, wie die akademische Freiheit effektiver mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen verknüpft werden könne, während Orzhel betonte, dass die Universitäten aktiver mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten müsse.
Die Podiumsdiskussion zeigt, wie wichtig internationale Zusammenarbeit und Dialog für die Bewältigung der komplexen Herausforderungen sind, vor denen die Wissenschaft heute steht. Durch den Austausch von Erfahrungen und Perspektiven unterstrichen die Teilnehmenden aus der Ukraine und Deutschland die Bedeutung der Solidarität bei der Verteidigung der akademischen Freiheit und der Förderung offener Wissenschaft in einer zunehmend vernetzten Welt.
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