Trugbild: GroĂe Reichweite, wenig Reibung
Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Trugbild: GroĂe Reichweite, wenig Reibung
Deutsche Politiker treffen im Wahlkampf auf berĂŒhmte Content Creator. Das neue Format könnte eine spannende Alternative zu klassischen Talkshows sein. Leider zĂ€hlen am Ende doch nur Sichtbarkeit und WĂ€hlerstimmen. Eine verpasste Chance.
Creator vergeben eine wertvolle Chance
â Public Domain Vincent Först mit Midjourney Vor der Bundestagswahl stehen deutsche Spitzenpolitiker Schlange bei Internet-Stars. Im Twitch-Livestream von Videospiel-Enthusiast âHandOfBloodâ tauchte Robert Habeck auf, beim âTim Gabel Podcastâ gaben sich Habeck, Christian Lindner und Sahra Wagenknecht die Klinke in die Hand, wĂ€hrend Olaf Scholz zu Gast bei der Web-Show âWorld Wide Wohnzimmerâ war.
Die GesprÀche zwischen Creator und Politikern verlaufen meist oberflÀchlich und konfliktfrei, Spannung stellt sich keine ein. Allzu schnell wird klar, dass es beiden Seiten vor allem um Reichweite geht. Damit aber vergeben die Creator eine wertvolle Chance.
Klicks fĂŒr Politiker
Am deutlichsten zeigt sich das im Podcast des Fitness-Influencers und Unternehmers Tim Gabel. Gabel besteht darauf, dass sich seine Zuhörer âeine eigene Meinung bildenâ und lehnt deshalb jede kritische Einordnung von Politiker-Aussagen ab. Allerdings kann, etwa wenn Gabel vor lauter Zustimmung mit Christian Lindner die Stimme bricht, von NeutralitĂ€t nicht immer die Rede sein.
Habeck, Lindner und Wagenknecht schmeicheln dem Gastgeber Gabel derweil fĂŒr seine âpositiveâ Haltung, vermutlich auch in der Hoffnung, erneut eingeladen zu werden. Die gut geölten Vortragsmaschinen dĂŒrfen dafĂŒr kritiklos ihre Positionen durchrattern. Das erinnert an das seichte wie geschmeidige Interview von YouTuber LeFloid mit Angela Merkel im Jahr 2017, das einen Meilenstein fĂŒr das damals noch gĂ€nzlich neue Genre darstellt.
Dass es auch etwas forscher geht, zeigt ein anderes Beispiel. âHerr Habeck, Sie hier?â, begrĂŒĂt Maximilian Knabe alias HandOfBlood den Vizekanzler, der mit alkoholfreiem Bier in Knabes Streaming-Butze auftaucht. SpĂ€ter lenkt HandOfBlood das GesprĂ€ch souverĂ€n in die von ihm gewĂŒnschte Richtung und bringt Habeck in Bezug auf E-Sports sogar kurz in ErklĂ€rungsnot. Unterbrechen oder hofieren lĂ€sst er sich vom GrĂŒnen-Chef nicht â ein erkennbarer Gegensatz zu Gabel.
In beiden FĂ€llen geht das KalkĂŒl der Politiker nach Reichweitensteigerung auf. Das Interesse an dem fĂŒr deutsche VerhĂ€ltnisse noch neuen Format âCreator-trifft-Politikerâ ist immens. Bei Gabel hören im Schnitt hunderttausende Menschen zu, Habeck konnte im Stream mit HandOfBlood rund eine Million Aufrufe verbuchen. Auch in den Kommentarspalten kommt der GrĂŒne gut weg. Viele zeigen sich begeistert ĂŒber dessen âNahbarkeitâ und âEhrlichkeitâ.
Neue Medien als angebliche Wahlentscheider
Im gegenwĂ€rtigen Kampf um die begehrten SendeplĂ€tze im Netz zeigt sich etwas Entscheidendes: Die Politiker sind mehr auf die Creator angewiesen als andersherum. Denn Creator haben einen Zugang zur WĂ€hlerschaft, die Politiker erreichen wollen. Dazu kommt der Druck, den groĂen Vorsprung der AfD aufzuholen, die das GeschĂ€ft der sozialen Medien bestens versteht. Die SendeplĂ€tze im Netz sind dementsprechend heiĂ begehrt.
Und auch aus einem anderen Anlass wollen Politiker in diesem Wahlkampf keine Chance ungenutzt lassen. Nach Kamala Harrisâ Niederlage im vergangenen November sehen manche Medien einen Grund fĂŒr die Schlappe darin, dass die Demokratin nicht beim US-amerikanischen âThe Joe Rogan Experienceâ-Podcast war, was sie entscheidende WĂ€hlerstimmen gekostet habe.
Trump hingegen sicherte sich einen Sendeplatz bei Rogan. Die Folge wurde auf YouTube mehr als 50 Millionen Mal aufgerufen. âPodcasts sind jetzt offiziell wichtiger als traditionelle Medienâ lautet der Topkommentar (400.000 Likes) eines Nutzers mit dem prophetischen Namen âCatoftruth1044â. Joe Rogan, einer der am meisten gehörten Menschen der Welt, sprach sich am Vorabend der Wahl dafĂŒr aus, Trump die Stimme zu geben.
Verpasste Chancen
Gewiss, auch Joe Rogan ist bekannt dafĂŒr, auf kritische Nachfragen und Einordnungen weitgehend zu verzichten. Dennoch sind die Folgen mitunter lehrreich, wie ein mehrstĂŒndiges GesprĂ€ch mit Mark Zuckerberg zeigt. Die beiden sprechen unter anderem ĂŒber die Jagd, ĂŒber Kampfsport und ĂŒber die FĂ€higkeit des Tötens. Dabei wird mehr ĂŒber ihre politische Gesinnung klar, als es etwa die Analyse einer renommierten Tageszeitung zu zeigen vermocht hĂ€tte.
Die deutschen Creator halten sich derweil eher an herkömmliche Talkshow-Themen. Sie laufen damit Gefahr, die Konversation zum lockeren Heimspiel fĂŒr die Politiker zu machen. Die Darlegung der eigenen Parteistandpunkte und das PrĂ€sentieren im besten Licht gehören zu deren Standardrepertoire und sind obendrein hinlĂ€nglich bekannt.
FĂŒr Gabel und Lindner wĂ€re es spannender gewesen, wenn sie sich auĂerhalb der festgetretenen Themengebiete bewegt hĂ€tten. Beide eint eine lange Geschichte der Selbstoptimierung, sei es durch Krafttraining oder auch durch vermeintliche Schönheits-OPs. Eine perfekte Vorlage, um ĂŒber Inszenierungsdruck in Ăffentlichkeit und sozialen Medien zu sprechen.
Solche Inhalte sind wahlkĂ€mpfenden Politikern vermutlich unbequem, ebenso wie den PR-Agenturen und Managements der Creator. Dabei liegt das Potential der neuen Formate gerade darin, die Politiker aus dem Mainstream hinauszufĂŒhren, um neue Perspektiven zu vermitteln. Hier sollten die Creator und Podcaster ihre Chance sehen â wenn sie nicht nur gegen klassische Talkshows bestehen, sondern denen auch ein neues Vorbild sein wollen.
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Author: Vincent Först
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