Thüringer Zustände: Eskalation der Demokratiegefährdung
Am 1. Mai 2025 veranstaltete die neonazistische Partei „Die Heimat“ (ehemals NPD) in Gera eine „Maifeier“, bestehend aus einer Demonstration, einer Kundgebung und einem Rechtsrock-Konzert.
(Quelle: RechercheNetzwerk.Berlin)
Die Thüringer Zustände werden herausgegeben von den Beratungsstellen ezra und MOBIT, dem Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration (KomRex) der Friedrich-Schiller-Universität Jena und vom IDZ, dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. Mit Franz Zobel (ezra), Felix Steiner (MOBIT) und Axel Salheiser (IDZ) haben wir über rechtsextremen Nachwuchs, Angriffe auf queere Menschen und Israelhass gesprochen.
Belltower.News: Wie sind die Zustände in Thüringen?
Franz Zobel: Wir erleben seit Jahren einen eskalierenden Rechtsextremismus, der die Demokratie, Sicherheit und Menschen in Thüringen gefährdet. Dabei stellen die Thüringer Zustände wiederholt deutlich heraus, dass die AfD als zentraler rechtsextremer Akteur die größte Bedrohung ist. Die hohen Zustimmungswerte in der Bevölkerung zur Partei und menschenverachtenden Ideologien gehen einher mit einer massiven Zunahme rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Im Jahr 2024 wurden durch das unabhängige Monitoring von ezra erstmals über 200 Angriffe in Thüringen registriert. Damit entwickelt sich rechte Gewalt, ähnlich wie in den 1990er Jahren, zu einem Massenphänomen. Mit großer Sorge schauen wir insbesondere auf das Wiedererstarken neonazistischer Jugendgruppen, die durch ein aggressives Auftreten Angsträume schaffen und mit Gewalt gegen Geflüchtete, linke und queere Menschen auffallen. Ein Hotspot war in diesem Zusammenhang Gera, in der mit der „Gerschen Jugend“ eine neonazistische Jugendgruppe sehr präsent ist, die auch an gewalttätigen Angriffen beteiligt war. Unter anderem hat ein Mitglied der Gruppe einem schwulen Paar mehrfach ins Gesicht geschlagen. Auf diese Entwicklung muss dringend reagiert werden. Dazu ist es wichtig, die Jugendlichen zu unterstützen, die von den rechten Dominanzbestrebungen und der damit einhergehenden Gewalt betroffen sind.
Die Teilnehmenden rechtsextremer Demos werden immer jünger, auch in Thüringen. Sind minderjährige Neonazis wieder Normalität?
Felix Steiner: In der Tat sehen wir bei vielen Demonstrationen der letzten Monate ein teils sehr junges Teilnehmer*innenfeld. Diese Entwicklung ist natürlich hochgradig beunruhigend, da hier die Gefahr besteht, dass sich in diesem ohnehin stattfindenden Rechtsruck auch noch zahlreiche junge Menschen dem Rechtsextremismus zuwenden. Und wie nun die Festnahmen der Generalbundesanwaltschaft zeigen, hat ein Teil dieser Jugendlichen sich schon bis zur brutalen Gewalt radikalisiert. Aber man sollte auch sehen, dass auf diesen Demonstrationen oft dieselben Leute sind. Dass neonazistische Jugendkultur wieder lokaler Mainstream wird, wie dies teils in den beginnenden 1990er-Jahren war, ist derzeit nicht der Fall. Dies ist keine Entwarnung, aber soll eben auch auf zahlreiche junge Leute verweisen, die sich nicht dem Rechtsextremismus zugewandt haben. Dennoch müssen wir diese vor allem online stattfindenden Radikalisierungsdynamiken im Auge behalten und die Frage stellen, wie dieses antidemokratische Potential bei jungen Menschen wirkungsvoll begegnet werden kann.
Wir sind mitten in der Pride-Saison. Auch in Thüringen finden CSDs statt. Wie sicher sind die Teilnehmenden?
Felix Steiner: Die ersten CSDs haben schon stattgefunden und bisher ohne Störung. Insgesamt sind die Menschen sicher, die auf die CSDs in Thüringen gehen. Dies liegt vor allem auch daran, dass die Organisator*innen in ihren Planungen auch auf Sicherheitskonzepte einen großen Wert legen. Diese Konzepte braucht es leider, vor allem auch bei der An- und Abreise. Man muss einkalkulieren, dass der momentan von der extrem rechten Szene kultivierte Hass auf die LGBTQ-Community auch gewaltförmig ist und dies muss bei der Organisation mitgedacht werden. Leider.
Bei den Landtagswahlen 2024 wurde die AfD mit Abstand stärkste Kraft. Seitdem regiert eine Koalition aus CDU, SPD und BSW. Wie funktioniert das?
Axel Salheiser: Bisher stellt die Koalition unter Beweis, dass demokratische Bündnisse durch Kompromissfähigkeit und gemeinsame Verantwortungsübernahme funktionieren – trotz der stark vergrößerten Fraktion der AfD und der Sperrminorität, die sie hat. Über den Regierungsalltag lässt sich zur Zeit noch schwerlich eine erste Bilanz ziehen – die Koalition hält und ist ins Arbeiten gekommen, allen Widerständen und schwierigen Kontexten zum Trotz. In den Thüringer Zuständen gehen wir in verschiedenen Beiträgen auf die Veränderung der politischen Kultur im Freistaat ein, vor allem auch in der Folge der Kommunalwahlen und im Kontext der Landtagswahlen. Die AfD hat überall derartige Stimmenzuwächse realisieren können, dass sie beansprucht, nicht nur mehr eine Minderheit der Bevölkerung zu repräsentieren. Es ist an den Demokrat*innen, dagegen zu halten und gute Politik zu machen, die dem populistischen Rechtsextremismus den Wind aus den Segeln nimmt. Kooperationen mit der AfD und jegliche Zugeständnisse müssen vermieden werden, denn das würde die Probleme nur vergrößern. Die Stärke der AfD resultiert auch aus der Verunsicherung und negativen Grundstimmung, die sich aufgrund der miteinander verketteten Krisen breitgemacht hat. Darum gilt es, jetzt demokratische Visionen für die Zukunft in praktische Politik umzusetzen, Orientierung zu bieten und damit den autoritären, völkisch-rassistischen und nationalistischen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Nach dem 7. Oktober 2023 gab es auch in Thüringen einen massiven Anstieg antisemitischer Straftaten. Wie sieht das heute aus?
Axel Salheiser: Wir müssen davon ausgehen, dass es weiterhin fast täglich zu antisemitischen Vorfällen und auch Straftaten in Thüringen kommt, auch wenn beispielsweise das Demonstrationsgeschehen zwischenzeitlich etwas abgeflaut war. Es kommt zu antisemitischen Äußerungen oder sogar zu Bedrohungen und tätlichen Angriffen auf jüdische Menschen, und besonders gehäuft haben sich seit 2023 die Angriffe auf die Erinnerungskultur. Da werden Stolpersteine rausgerissen oder Schmierereien in Gedenkstätten hinterlassen, wobei sich die Grenzen zwischen israelbezogenem und antizionistischen Antisemitismus und Schuldabwehr- bzw. Post-Shoah-Antisemitismus auch verflüssigen. Auffälligerweise geht das eben nicht nur von Personen aus, die „rechts“ oder rechtsextrem zu verorten sind, sondern die Narrative und Parolen dazu werden in Kreisen gestreut und geäußert, die sich selbst als links, progressiv, postkolonalistisch usw. bezeichnen. Der Beitrag von RIAS zeigt zahlreiche Beispiele auf und macht klar, dass die Bekämpfung des Antisemitismus wirklich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Das ist sie seit jeher, aber wir sehen eben, dass es über das gesamte politische Spektrum dabei bisweilen zu wenig Klarheit und Sensibilität gibt.