Zuhören als Schule der Wahrnehmung
Bernhard Pörksen hat ein Buch ĂŒber das Zuhören geschrieben, und es scheint gut anzukommen in einer Zeit, in der die Schalter der gesellschaftlichen Kommunikation meistens auf Sendung stehen. Doch sollte man den Titel nicht zu wörtlich nehmen. Denn es geht in âZuhörenâ um mehr als um die aufmerksame Zuwendung zu den Worten anderer. Zuhören nach Pörksen ist eine Metapher fĂŒr den Versuch, sich unserer Welt in all ihrer KomplexitĂ€t zu öffnen, sie in den feinen Nuancen und in ihren WidersprĂŒchen wahrnehmen und besser verstehen zu lernen. Zugleich beschreibt der Medienwissenschaftler, wie es Menschen gelingt oder wie sie daran scheitern, Gehör zu finden â inspirierend fĂŒr die Kommunikation in zunehmend herausforderungsvollen Zeiten.
âZuhören, verstanden als eine »Metapher fĂŒr Offenheit«, fĂŒr »innere Gastfreundschaft« und die »Bejahung des Anderen«, fĂŒr die versuchte Akzeptanz und Beheimatung des Irritierenden und Fremdartigen, ist, zweitens, ein deutlich zu allgemeines, allzu umfassendes Wort fĂŒr sehr unterschiedliche Formen und Varianten der Weltzuwendung.â (S. 25/26)
Mit verschiedenen Ohren hören
Als Grundlage entwickelt Bernhard Pörksen im ersten Teil eine âPhilosophie des Zuhörensâ, stellt uns das Ich-Ohr und das Du-Ohr vor. Hören wir mit dem Ich-Ohr, sind wir gefangen in den eigenen persönlichen Urteilen und Vorurteilen, der âegozentrischen Aufmerksamkeitâ. Wir finden keinen Zugang zu anderen Perspektiven, sie bleiben uns verschlossen. Mit dem Du-Ohr dagegen versuchen wir, in die Welt des Senders einzutauchen, verlassen wir ein StĂŒck weit die persönliche Perspektive, um die Andersartigkeit des Wahrgenommenen zu erleben. Bernhard Pörksen stellt zwei Varianten fĂŒr das Du-Ohr vor: Wir können damit zuhören und zum EinverstĂ€ndnis kommen, zur âliebenden Akzeptanzâ. Wir können aber auch bei den eigenen Werten und Ăberzeugungen bleiben und die Perspektive des anderen strategisch nur deshalb ĂŒbernehmen, um sie besser verstehen, wenn nötig auch besser dagegen argumentieren zu können.
Das ist so weit alles gut nachvollziehbar, und im zweiten Teil soll es zur Konkretisierung dieses Modells kommen. DafĂŒr spielt der Begriff der individuellen Tiefengeschichte eine zentrale Rolle: PrĂ€gungen durch Erlebnisse in der Biografie eines Menschen können wesentlich beeinflussen, wie wir uns der Welt im Zuhören öffnen können â oder auch nicht.
Nicht zuhören können
Bernhard Pörksen beginnt mit seiner Geschichte, um die Bedeutung der biografischen Komponente im Wahrnehmungsprozess sichtbar zu machen. Er rollt noch einmal den Skandal um den systematischen, sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule auf. Dabei will er erklĂ€ren, warum es ihm selbst â wie so vielen anderen â lange Jahre nicht möglich gewesen war, hinter der Fassade der Reformschule die Geschichte von Machtmissbrauch und Vertuschung zu erkennen, obwohl es Betroffene, sogar einen Journalisten gegeben hatte, die darĂŒber berichtet hatten. Die Fakten waren schon vor dem groĂen Skandal, als die Ăffentlichkeit irgendwann endlich zuhören konnte, zugĂ€nglich gewesen. Wie aber erklĂ€rt sich das groĂe Schweigen, das jahrelang ĂŒber den VorfĂ€llen lag? Pörksen sucht eine Antwort zunĂ€chst ĂŒber seine individuelle Erfahrung. Dann weitet er den Blick, nennt Ideologien, Personenkult, MachtgefĂŒge, vor allem den Kontext des öffentlichen Diskurses als Bedingungen dafĂŒr, dass die Betroffenen kein Gehör fanden. Es mussten erst verschiedene Faktoren zusammenwirken, damit es ĂŒber die Skandalisierung zur AufklĂ€rung kommen konnte.
Das Allgemeine im Besonderen erkennen
Die Anwendung dieser Philosophie des Hörens erweist sich also als komplexer, als es anfangs schien. Es zeigt sich gleich am ersten Beispiel: Auf den Kontext komm es an. Was aber ist der ĂŒbergreifende Erkenntnisgewinn, wenn wir im Folgenden den Begegnungen Pörksens mit weiteren Protagonist:innen folgen? In ihrer Verschiedenartigkeit ist ihnen vielleicht nur eines gemeinsam: Gehör finden zu wollen fĂŒr drĂ€ngende Themen wie Frieden, Kommunikationsfreiheit oder Klimaschutz.
Die Antwort mag sein, dass es ĂŒbergreifende, abstrakte Wahrheiten in diesen Beispielen nicht gibt. Dass jede Geschichte ihre eigene Erkenntnis in sich trĂ€gt, dass sie, ganz sicher bewusst, gegen jede Schematisierung angelegt sind. Es ist die konsequente Umsetzung der von Bernhard Pörksen selbst geforderten Abkehr vom Abstrakten zugunsten der Hinwendung zum Konkreten, die er hier vornimmt, um zu erklĂ€ren, wie das Zuhören funktioniert und noch mehr: wie Menschen Gehör finden.
Das Konkrete, das sind die besonderen Menschen und ihre Erfahrungen, an denen wir teilhaben, wenn wir Bernhard Pörksen beim Zuhören begleiten. Da ist zum Beispiel der Unternehmer und Aktivist Misha Katsurin aus der Ukraine, der im Krieg um das VerstĂ€ndnis seines in Russland lebenden Vaters und gegen Desinformation und Ideologie kĂ€mpft, der scheitert, und doch weitermacht. Da ist der Hippie, Utopist und Vordenker aus dem Sillicon Valley, Stuart Brand, der als Pionier im Internet die VerheiĂung einer allumfassenden Kommunikation ohne Barrieren und Hierarchien sehen konnte â und sich nun angesichts der RealitĂ€t quasi achselzuckend der nĂ€chste Utopie zuwendet. Da ist der Journalist Andrew Revkins, der ĂŒber den Klimawandel aufklĂ€ren will und trotz aller RĂŒckschlĂ€ge neue dialogische Formen dafĂŒr erprobt. Der Politiker Jerry Brown, einstiger Gouverneur von Kalifornien, der die Gefahren des Klimawandels nur deshalb so gut hatte erkennen und politisch dagegen agieren können, weil er sich phasenweise komplett aus allem Geschehen zurĂŒckgezogen hatte. Und da ist Luisa Neubauer, die erlebt hat, dass die herkömmlichen Formate nicht mehr greifen, um ĂŒber den Klimawandel aufzuklĂ€ren, und die sich auf die Suche nach Neuen macht.
Konkrete Geschichten fĂŒr die drĂ€ngenden Fragen
Es sind Geschichten mutiger Menschen, die das, was sie tun, mit Ăberzeugung machen, die selbst irgendwann einmal gute Zuhörende gewesen sind und gerade deshalb vielleicht klarer als andere die Notwendigkeiten der Zeit erkennen können. In ihren Wunsch, gehört zu werden, sind sie erfolgreich, in ihren Anliegen sehen wir sie aber auch scheitern. Pörksen erzĂ€hlt ihre Geschichten anschaulich, persönlich, an einzelnen Stellen drastisch bis schonungslos.
Teilweise verwirrt dabei die Vielzahl an und der Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen, Rollen und GesprĂ€chspartner:innen. Zudem tritt Pörksen als Medienwissenschaftler immer wieder aus den konkreten Geschichten heraus, analysiert und kann dabei aktuell drĂ€ngender Fragen doch nur streifen, wie zum Beispiel: Wie erreichen wir die, die wir nicht mehr erreichen? Wie können wir die Klimakrise erklĂ€ren? Wie lassen sich MachtgefĂŒge im öffentlichen Diskurs ausmachen, wie aufklĂ€rend dagegenwirken?
Es gibt viele DenkanstöĂe, Anregungen, weiterzulesen, in Pörksens eigenem Werk und bei den umfangreichen weiteren Verweisen in den FuĂnoten. Die Vertiefung bleibt den Leser:innen ĂŒberlassen, damit lĂ€sst sich leben, Pörksen und andere haben zu den Themen schon einiges gesagt.
Bleibt uns nur die âDemokratie im Kleinenâ?
Im dritten Teil versucht Pörksen, seine Ăberlegungen und Beobachtungen vom individuellen Fallbeispiel auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs in der durch das Internet vernetzten Welt zu heben. Seine Diagnose fĂ€llt hier eher desillusionierend aus.
âWar es frĂŒher schwerer, zu sprechen, ist es heute schwerer, Gehör zu findenâ, so zitiert er den Juristen Tim Wu, der das Problem in der Aufmerksamkeit der Zuhörenden verortet. Alle sprechen, doch am Ende mag kaum niemand mehr zuhören, analysiert Pörksen. Selbst die von Politiker:innen inszenierten GesprĂ€che auf âAugenhöheâ, ob an KĂŒchentischen oder an der HaustĂŒr, können ihn nicht ĂŒberzeugen, er bezeichnet sie als âFassaden-Zuhörenâ. Es ist eine Aneinanderreihung missglĂŒckter GesprĂ€che, die hier folgt, Situationen, in denen Etikettierungen, Ideologien und die Umgebung einer reizĂŒberfluteten Gesellschaft das eigentliche Zuhören von vornherein unmöglich machen.
Was setzt Pörksen, der sich doch selbst jeden Diskursalarmismus verbietet, dem entgegen? Er fĂŒhrt uns zurĂŒck auf uns selbst, empfiehlt, sich auf das Konkrete zu fokussieren, im direkten Austausch âDemokratie im Kleinenâ zu praktizieren.
âWirkliches Zuhören ist, so betrachtet, nichts fĂŒr die groĂe Politik, nichts fĂŒr die groĂe Arena und den Austausch von vorab einstudierten Fertigantworten, nichts fĂŒr das Aufeinander-Eindreschen in sozialen Netzwerkenâ. (Seite 276)
Wenn Bernhard Pörksen hier so endet, so klingt das fĂŒr den öffentlichen Diskurs nicht gerade verheiĂungsvoll. Denn an dieser Stelle bleibt offen, wie aus den vielen einzelnen fragmentierten GesprĂ€chen, wie aus der daraus erfolgenden partiellen Erkenntnissen wieder ein gesellschaftliches Miteinander wachsen könnte.
Doch es gibt Antworten, sie finden sich schon frĂŒher im Buch. Pörksen wirbt nicht fĂŒr den RĂŒckzug ins SingulĂ€re. Es ist ein Pendeln zwischen den Perspektiven, das er einfordert, zwischen dem Erkennen im Besonderen und der Analyse im Ganzen. In der ErzĂ€hlung ĂŒber die Odenwaldschule beschreibt er, wie die Vernetzung einzelner aufmerksam Zuhörender mit Betroffenen eine neue Macht wirken lieĂ, die gesellschaftliche VerĂ€nderungen auslösen konnte. Diese Spur halte ich fĂŒr vielversprechend, denn aus einzelnen Du-Ohr-Zuhörenden könnten Gemeinschaften entstehen, wenn die gemeinsamen Anliegen sichtbar werden. Dass dabei auch digitale Medien ihre Kraft entfalten, mag in der eher vernichtenden Kritik der öffentlichen Kommunikationhier am Ende untergehen.
Doch auch von den Potenzialen öffentlicher Kommunikation, gestĂŒtzt durch digitale KanĂ€le, weiĂ Pörksen zu berichten, wenn er an die Ermordung des Schwarzen US-BĂŒrgers George Flyod durch einen WeiĂen Polizisten und den darauf folgenden Protest erinnert. Es sei â unter anderem â das Zusammenspiel von klassischen und digitalen Medien, das eine âbesondere Wucht und Wirkung erzeugtâ, das hier einmal die Welt, wenn auch nur fĂŒr einen Moment, zuhören lieĂe.
Bernhard Pörksen: Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Hanser, MĂŒnchen 2025.
In der Sternstunde Philosophie spricht Bernhard Pörksen ĂŒber das Zuhören mit Barbara Bleisch, wie immer auch als Podcast zu hören.
Nachtrag: Die Novelle zum Buch
Parallel zum Buch von Bernhard Pörksen habe ich die Novelle von Claire Keegan âKleine Dinge, wie dieseâ gelesen â und sehr gemocht. Nach und nach wurde mir klar, dass ich mit diesem kleinen Band eine ganz besondere Geschichte ĂŒber das Zuhören las, die Geschichte eines irischen KohlenhĂ€ndlers, der ein katholisches Heim fĂŒr MĂ€dchen beliefert und dabei Zeuge eines Vorfalls wird, der ihn nicht mehr loslĂ€sst. Er ahnt, worĂŒber die ganze Stadt Bescheid weiĂ, aber niemand spricht: Die MĂ€dchen werden in der Einrichtung ausgebeutet und misshandelt. Er denkt an seine Kindheit zurĂŒck â und handelt.
Im Deutschlandfunk gibt es eine Rezension des Buchs von Sigrid Löffler.
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