Digitale Souveränität? Europa träumt, Amerika handelt – und Bayern macht’s mit Microsoft
Es gibt Momente, in denen man sich fragt, ob Europa eigentlich wirklich digitale Souveränität will – oder ob wir lediglich gerne darüber sprechen, weil es sich modern anhört. Der jüngste Gipfel zur europäischen digitalen Souveränität war genau so ein Moment: viel Pathos, viele Kameras, viel politisches Schulterklopfen. Lars Klingbeil steht tags zuvor strahlend neben Google-Vertretern und preist die „echte Zukunftsinvestition“ in Deutschland. Bayern verkündet fröhlich einen Komplettvertrag mit Microsoft 365 für die gesamte Landesverwaltung. Wenn das Souveränität sein soll, dann ist es zumindest eine sehr großzügige Interpretation des Begriffs, meinen wir bei #9vor9.
Frankreich hat derweil einen klaren Plan: Buy European. Deutschland wiederum hat die typische Haltung, die man inzwischen erwarten darf: „Ja, vielleicht, wir prüfen das, wir müssen schauen.“ Und am Ende wird vermutlich wieder jedes Land seinen eigenen Weg gehen. Buy European heißt dann Buy French oder Buy German, aber nicht Buy European. Es ist fast schon ein Running Gag auf europäischer Ebene. Nur lachen kann man irgendwann nicht mehr darüber.
Unser kleiner #9vor9-Podcast ist ein perfektes Beispiel für das große europäische Dilemma: Ohne amerikanische oder asiatische Technologie wäre #9vor9 nicht möglich, mussten wir zugeben – und das ist kein Einzelfall. Wir hosten auf Podigee (made in Germany, Serverstandort unklar), veröffentlichen auch auf Spotify (europäisch, aber kaum ein Alleinstellungsmerkmal) und bereiten aber den Podcast mit Googles Notebook-LM vor. Unsere Hardware? Da wollen wir gar nicht drüber reden.
Die bittere Wahrheit ist: Wir kommen nicht von heute auf morgen ohne die US-Tech-Giganten aus. Ob Cloud-Infrastruktur, KI-Tools oder Bürosoftware – die Abhängigkeit ist tief verwurzelt, und jeder Versuch, sie von heute auf morgen zu kappen, wäre realitätsfremd. Doch genau das darf keine Ausrede sein, um in der bequemen Abhängigkeit zu verharren. Wenn Europa digitale Souveränität ernst nimmt, muss es konsequent dort anfangen, wo es bereits Alternativen gibt – und diese nicht nur als PR-Gag feiern, sondern als Standard etablieren.
Warum nutzt die öffentliche Verwaltung nicht flächendeckend OpenDesk statt Microsoft 365? Warum werden europäische Cloud-Lösungen nicht prioritär ausgebaut, statt Milliarden in US-Infrastrukturen zu pumpen? Warum fördern wir nicht massiv Start-ups wie Mistral, statt die Investitionen von Google, Microsoft und AWS zu feiern?
Während die Schweiz beschlossen hat, „Hyperscaler nur noch in Maßen“ zu nutzen und auf europäische Lösungen zu setzen, macht Bayern das genaue Gegenteil: Microsoft 365 für alle Behörden! Warum? Arbeitsplätze! Wir können nicht ohne! Die anderen machen’s ja auch! Wie viel Steuern zahlt Microsoft eigentlich in Deutschland? Und wie viel wird über Irland ‚optimiert‘? Und selbst die Bundeswehr in die Google Cloud. Die Liste lässt sich leicht fortsetzen.
Es geht nicht um radikale Abschottung, sondern um strategische Unabhängigkeit: Schritt für Schritt Bereiche identifizieren, in denen Europa handlungsfähig ist – und dann konsequent umsetzen. Jeder Euro, der in US-Clouds fließt, ist ein Euro, der europäischen Lösungen fehlt. Jede Behörde, die Microsoft statt Open Source nutzt, zementiert die Abhängigkeit weiter. Souveränität entsteht nicht durch Sonntagsreden, sondern durch mutige Entscheidungen – selbst wenn sie unbequem sind. Die Frage ist nicht, ob wir es schaffen, sondern ob wir es überhaupt wollen. Und bisher sieht es nicht so aus.
Der wahre Star des Gipfels war nicht die digitale Souveränität, sondern der digitale Omnibus – ein Vorhaben, das den europäischen Datenschutz „lockern“ soll. Warum? Weil wir uns sonst zu Tode regulieren, so der Tenor der Lobbyisten. Der „Digitale Omnibus“ – die große Initiative zur „Modernisierung“ der Datenschutzregeln – ist im Grunde nichts anderes als ein Lobbyprojekt, das Innovation predigt und Deregulierung liefert. Plötzlich heißt es nicht mehr, man wolle Bürger:innen schützen, sondern man müsse die Unternehmen „befreien“.
Und wer davon profitieren würde, steht längst fest: die gleichen Tech-Konzerne, von denen man sich angeblich unabhängiger machen will. Dass europäische Datenschutzstandards weltweit oft als Vorbild gelten könnten, scheint vergessen. Hauptsache, es stört niemand die Innovationsstory. Immerhin besteht noch Hoffnung, dass der Omnibus beim Gang durch die europäischen Institutionen noch angepasst wird und der Datenschutz nicht komplett auf der Strecke bleibt.
Am Ende des Podcasts bleiben wir ratlos zurück. „Was bleibt?“, fragte Lars. „Nichts“, antwortete ich. „Außer 12 Milliarden Investitionen“. Europa hat zwei Optionen: Weiter so – wir reden über Souveränität, während wir uns in Abhängigkeiten flüchten. Oder: Handeln – Flaggschiff-Projekte wie OpenDesk konsequent umsetzen – und nicht nur feiern, wenn die Schweiz es vormacht. Doch solange Bundesländer wie Bayern weiter ihr eigenes Ding machen…– und die Bundesregierung „Deregulierung“ als Innovation verkauft, wird aus dem Traum von der „dritten digitalen Weltmacht“ nichts.
Wir wollen souverän sein, aber bitte ohne die Mühen, die echte Souveränität mit sich bringt. Bleibt die Frage: Glauben wir wirklich daran, dass Europa irgendwann digital souverän werden kann? Oder folgen wir weiter dem Weg des geringsten Widerstands – direkt hinein in die nächste Cloud oder KI-Modell amerikanischer Tech-Konzerne? Ich habe da so meine Zweifel. Aber vielleicht bin ich ja auch nur zu pessimistisch. Oder zu realistisch.
Und darum bleibt dieser Gipfel für mich das, was er war: Ein Versprechen ohne Ernsthaftigkeit. Eine Ankündigung ohne Konsequenz. Heiße Luft im Dezember.
Aber immerhin: Es ist bald Weihnachten. Da können wir wenigstens analog auf dem Weihnachtsmarkt sein und einen Glühwein trinken. Ohne Microsoft. Ohne Google. Ohne Cloud. Und KI.
Kleiner Trost.
Was bleibt vom Gipfel?
Wenn man großzügig ist:
- OpenDesk, MIStral & Co. bekommen etwas PR-Schub.
- Schwarz Digital baut Rechenzentren.
- Europa hat immerhin darüber gesprochen, dass es souveräner werden müsste.
Wenn man realistisch ist:
- Viel PR.
- Wenig Substanz.
- Kaum Entscheidungen.
- Und ein großer Schritt Richtung „weniger Datenschutz“, statt „mehr Souveränität“.
Kurz gesagt:
Der Gipfel war eine vertane Chance.
Europas digitale Souveränität: Was bleibt vom EU-Gipfel im November 2025? – #9vor9 – Die Digitalthemen der Woche
Der Europäische Gipfel für digitale Souveränität 2025 sollte einen Weg aufzeigen in Europas möglichst unabhängige, technologische Zukunft. Wir sind uns eher unsicher, ob das so gut geklappt hat. Wir reden in unserer neuen Episode unter anderem über:• die angekündigten Milliardeninvestitionen großer US-Technologiekonzerne• der deutsch-französische Versuch, „Buy European“ zu etablieren• mögliche industriepolitische Konsequenzen und geopolitische Abhängigkeiten• die Rolle europäischer Alternativen wie Mistral, SAP, GAIA-X oder Open Source• der „digitale Omnibus“ und die Debatte um eine Lockerung europäischer Datenschutzstandards• die Frage, ob die EU realistische Chancen hat, digital souveräner zu werden• und welche Signale (oder fehlenden Signale) der Gipfel tatsächlich gesendet hatLeider hat diese Episode kein Happy End.Mein Ankündigungs-Video zum Podcast
https://youtube.com/shorts/mgrnp-s8jvo
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