Verbietet das Handy in Altersheimen!
Wieder, wie alle Jahre zuvor, war ich zu spät gekommen. Vielleicht, weil ich mir jedesmal unschlüssig war, ob ich überhaupt kommen wolle. Diesmal allerdings war ich mir sicher: „70 Jahre Abitur“, das war wohl die letzte Gelegenheit, noch einmal alle zu sehen.
Alle? An der langen gedeckten Tafel, an der sich einst fünfundvierzig drängten, empfingen mich noch sieben. Trüben Blicks. Ob sie mir die Verspätung übel nahmen? Nein. So sichtlich waren sie erleichtert, dass wenigstens noch ein achter kam. Vielleicht deshalb hatten sie mir den rhetorisch interessantesten Platz am Tisch freigehalten: links der berühmte Psychoanalytiker – rechts ein Tiefbau-Ingenieur, berühmt auch er durch einen Staudamm, den er in Anatolien gebaut hat.
Ich rückte meinen Stuhl unmissverständlich von dem Psychoanalytiker weg und zu dem Tiefbau-Ingenieur hin. Warum? Psychoanalyse halte ich für eine besonders tiefe Form von Tiefsinn. Es gibt aber einen Glauben, einen einzigen, den ich seit früher Jugend nicht verloren habe. Ich glaube, dass Tiefsinn das gleiche ist wie Unsinn. Nichts dagegen scheint mir gegen Tiefsinn so gefeit wie ein Staudamm in Anatolien.
Zu meiner Überraschung schob der Tiefbau-Ingenieur das Thema Anatolien mit einer Handbewegung beiseite. Er habe noch einen zweiten Staudamm gebaut, und zwar in Brasilien. Der habe ihm nicht soviel Ruhm gebracht wie der Staudamm in Anatolien, aber dafür mehr Geld. Soviel Geld, dass er sich in den hellen Hügeln hinter Rio de Janeiro ein märchenhaftes Landhaus bauen konnte. Doch eben dieses Glück sei ihm zum Unglück geworden. Eines schönen Morgens, als er im Morgenrock glücklich draussen auf der Terrasse sass, kamen an die zwanzig schwarz vermummte Gestalten in seine Villa gestürmt. „Hau ab!“ schrien sie im Chor. „Der Herr hat uns dein Haus geschenkt.“ O Gott, eine protestantische Sekte! In einem nahen Franziskanerkloster habe er Zuflucht gefunden. Und auch Trost. Aber keine Hilfe.
Mir war es in Brasilien nicht so schlimm ergangen. Auf der Ilha paradisiaca von Morro de Saô Paulo hatte ich es mit einem italienischen Yacht-Club zu tun bekommen. Ich floh in die nahe Grosstadt Salvador de Bahia. Dort gibt es auch einen wunderschön barocken Convento de San Francisco. Statt dessen wagte ich mich todesmutig in eine der berüchtigtsten Favelas von Salvador. Trost fand ich dort nicht, dafür Hilfe. Teure Hilfe allerdings bei einer kriminellen Bande, die bereit war, sich sogar eines italienischen Yacht-Clubs anzunehmen. Eine protestantische Sekte dürfte aber kein schlimmeres Problem sein als ein italienischer Yacht-Club, meine ich jedenfalls.
Jetzt sah mir mein Jugendfreund, der Tiefbau-Ingenieur, ins Auge. Misstrauen sprach aus seinem tiefen Blick, ja Entsetzen. In seine Tasche griff er und zum Handy. Zur Künstlichen Intelligenz griff er. Im Nu lieferte sie ihm acht Bilder von mir sowie eine kurze Fassung meines verworrenen Lebensweges. Der neben ihm sass, war ich, sein Jugendfreund. Die Künstliche Intelligenz hatte es ihm bestätigt.
Die psychoanalytische Diskussion links von mir hatte ich nicht verfolgt, auch nicht mit halbem Ohr. Jetzt aber blickte ich forschend hinüber: Alle hatten sie ihr Handy schon links an den Teller gelegt, säuberlich neben die Gabel. Und je tiefer der tiefenpsychologische Tiefsinn sich vertiefte, desto häufiger griffen sie, einer nach dem andern, zum Handy. Bis schliesslich die psychoanalytische Konversation ganz erstarb. Sei es, weil die Künstliche Intelligenz auch nicht mehr tiefer konnte, sei es, weil der Nachtisch serviert wurde. Und der war, wie in manchen Wirtshäusern, besser als das Hauptgericht.
Missmutig schlang ich ihn hinunter. Zu sehr lag mir Jens Spahn auf dem Magen. Eben noch hat er ganz Deutschland verrückt gemacht mit der „wissenschaftlichen“ Erkenntnis, dass Tiktok bei Teenagern das noch wachsende Gehirn so irreparabel schädigen könne wie Heroin. Das Handy sei deshalb Minderjährigen zu verbieten wie Alkohol und Nikotin. Wie Heroin sowieso.
Hier irrt Jens Spahn. Wie gern hätte ich als Zehnjähriger ein Handy gehabt. So gern gönne ich den Knaben heute ihr Handy. Unbeaufsichtigt, unbetreut verschafft es ihnen Zugang zu allen Welten des Wissbaren, Sagbaren, Machbaren. Jenen grenzenlosen Horizont verschafft es ihnen, nach dem alle Knaben aller Generationen sich zuvor nur gesehnt haben.
Jetzt den Teenagern das Handy verbieten? In den achtziger Jahren geschah in Frankreich etwas Unerhörtes: die patriarchalische Struktur der französischen Familie brach zusammen. Wohlgemerkt hundert Jahre erst nach der Französischen Revolution. Woran lag das?
Frankreichs beste Soziologen haben es herausgefunden: es war das Moped! Sobald das Moped erfunden war, wusste der französische Familienvater nicht mehr, wo sein Knabe abends herumkurvte. Mit einem letzten Kopfschütteln gab er den verwirkten Kontrollanspruch auf.
Das Moped verbieten? Gallische Weisheit war es, das nicht zu tun. Es hätte wohl eine zweite Französische Revolution ausgelöst. So wie jetzt, ein halbes Jahrhundert später, bei uns ein Handy-Verbot für Teenager das auslösen könnte, was Lenin noch für unmöglich hielt: eine deutsche Revolution.
Doch es ist wie immer bei Jens Spahn. Wenn er irrt, dann schrammt er ganz nahe an der Wahrheit vorbei. Tatsächlich ist ein Handy-Verbot dringend notwendig und vielleicht sogar machbar. Aber nicht für Knaben, sondern für Greise. Und nicht nur für Greise auf 70-Jahre-Abitur-Feiern, nicht nur für Bischofskonferenzen und nicht nur für Ostfront-Veteranen-Treffen. Ursula von der Leyen ist persönlich gefordert. Was wir brauchen, ist ein strenges Handy-Verbot für alle Altersheime der gesamten Europäischen Union.
Gelingen wird das nur in enger Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission in Brüssel und der Unesco in Paris. Die muss jetzt sofort Europas Altersheime als handyfreie Zonen zum Weltkulturerbe erklären. Damit in diesem barbarischen Zeitalter der Vielwisserei, der Besserwisserei, ja der gottverdammten elektronischen Alleswisserei wenigstens noch die Altersheime ein Schutzraum bleiben für das älteste Wissen europäischer Kultur:
Ich weiss, dass ich nichts weiss.
Scio me nescire.
Οἶδα οὐκ εἰδώς.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner überaus freundlichen Genehmigung.