Zum 100. Todestages von Rudolf Steiner wollen wir nicht auf die vielen Einrichtungen und Bewegungen schauen, die aus der Anthroposophie hervorgegangen sind, sondern auf den oft zu kurz kommenden erkenntnistheoretischen und ethischen Kern von Steiners Philosophie, der aktueller ist denn je.
Steiner drückt hier eine fundamentale Unterscheidung zwischen Kants Konzept der Pflicht und seiner eigenen Auffassung von Freiheit aus. Kant stellt die Pflicht als ein moralisches Gesetz dar, das der Mensch befolgen muss, unabhängig von seinen eigenen Neigungen. Dies steht für Steiner im Kontrast zu der Möglichkeit einer auf innerer Entwicklung und geistiger Erkenntnis basierenden moralischen Handlung, bei der der Mensch nicht aus innerem oder äußerem Zwang heraus ethisch handelt, sondern aus einer freien geistigen Einsicht heraus. Durch den universellen Charakter des Geistigen, zu welchem alle Menschen potenziell Zugang haben, ist Ethik einem solchen Handeln immanent.
Wenn man diese Gedanken auf die heutigen ethischen Probleme anwendet, kann man sie als eine Einladung verstehen, die Fragen von Moral und Verantwortung nicht nur als äußere Verpflichtungen zu betrachten, sondern als Ausdruck einer inneren Freiheit und einer ethischen Vision. In der heutigen Welt, die von tiefgreifenden Problemen wie dem Egoismus des Westens, der Ausbeutung von Ressourcen, Fremdenfeindlichkeit, Kriegen und der Klimakrise geprägt ist, bietet Steiners Philosophie eine fundamental andere und hochaktuelle Perspektive.
Die westliche Gesellschaft ist oft von einem Individualismus geprägt, der das Wohl des Einzelnen über das Gemeinwohl stellt. Doch wahre Freiheit, „sittliche Liebe“, erkennt, dass wir nur dann wirklich frei sind, wenn wir bei Erkenntnis der besonderen Rolle des Menschen und der Universalität aller Menschen liebevolle Verantwortung für das Wohl anderer und der Erde übernehmen. Ein ethischer Individualismus, der die Sorge um die Natur, den Dialog zwischen den Kulturen und die Verantwortung