#kunstradio

2025-06-05

Berechenbar, aber nicht beobachtbar – Ines Birkhan als Schrödingers Katze und Neo-Yuchi 

Ines Birkhans komplementär konstruierte Hörspiele „Streifenreduktion“ und „Eskapismus“ erkunden für das ORF-Kunstradio Transformationen von Identitäten in Möglichkeitsräumen zwischen Quantenphysik und Künstlicher Intelligenz.

Ines Birkhan: Streifenreduktion, Eskapismus

ORF Ö1, Do, 22. Mai, 23.03 bis 0.00 Uhr

Zum Auftakt des „Space Day“, mit dem der Österreichische Rundfunk (ORF) das 50-jährige Jubiläum der Europäischen Raumfahrtagentur ESA feiert, sendet das ORF-Kunstradio zwei neue Hörspiele der Schriftstellerin und Choreographin Ines Birkhan: „Streifenreduktion“ und „Eskapismus“. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Birkhan mit dem Weltraum als Setting beschäftigt. In ihrem im Jahr 2020 urgesendeten Stück „Mit der Fliehkraft“ ging es um die seltsamen körperlichen Transformationen, die Menschen auf dem Weg zu einem terrageformten Mars durchlaufen.

In ihrem neuen 30-minütigen Stück „Streifenreduktion“ befinden wir uns in einem Raumschiff, in dem Menschen in Stahlzylinder gesteckt werden. Sie dienen als Versuchsobjekte für das „burlesk ausgeschmückte“ Gedankenexperiment des Quantenphysiker und Nobelpreisträgers Erwin Schrödinger aus dem Jahr 1935. Bei Schrödinger wurde eine Katze zusammen mit einem radioaktiven Atom, einem Geigerzähler und einem Fläschchen Giftgas in eine Stahlkammer gesperrt. Sobald der Geigerzähler den Zerfall des Atoms maß, löste er ein Hämmerchen aus, das die Giftgasampulle zerbrach.

Quantenmechanisch betrachtet befinden sich die Elektronen des zerfallenden Atoms in einer „kohärenten Superposition“ im Wellenfeld, sodass sich gleichzeitig mehrere Zustände überlagern können. In Schrödingers Gedankenexperiment überträgt er diesen quantenmechanischen Zustand auf die Makrowelt der Katze, die demzufolge zugleich tot und lebendig ist.

Transformationen auf sprachlicher Ebene

Bei Ines Birkhan sind es 300 Menschen, die im „Schrödinger C-2081“-Experiment in Stahlzylindern in einen gestreiften „Katzenzustand“ überführt werden. Mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit kippen sie tot aus den Stahlhülsen, werden dann mit einem Gegengift wiederbelebt und kolonisieren anschließend als normale Menschen das Weltall. „Im Asteroidengürtel wirst du Arbeit finden, bei niedriger Schwerkraft eine Familie gründen!“, lautet der gereimte Abschiedsgruß. Wer die Versuche jedoch überlebt, wird, wie die von der Autorin und Regisseurin selbst gesprochene Probandin, mit diamantenen Eckzähnen als „Tigergeist“ ausgestattet.

Es geht also um Transformationen, die sich auch auf sprachlicher Ebene (gesprochen von Anne Bennent) realisieren. „Ein einziger Satz streut dich in alle Möglichkeiten“ ist das Motto, das durch Rekombination der Buchstaben (2c, 2h, 3l, 1ö, 1m, 1k, 7i, 4n, 7e, 2g, 2r, 1z, 2a, 4t, 1u, 1d) anagrammatisch abgewandelt wird. Lässt man eine Maschine die Anagramme berechnen, funktioniert das eher schlecht. Wenn man die Buchstaben hingegen von Hand rekombiniert, entstehen beispielsweise Sätze wie: „Nicht drei minzig graue Eiszeiten killten Astloecher“ oder „schirche Ziege in Stall Tidizet linierte Augenmolke“.

Ähnlich wie in Schrödingers Experiment sind die resultierenden Wahrscheinlichkeiten berechenbar, aber nicht beobachtbar. In Birkhans Versuchsanordnung wird der Körper ein Flimmern der Möglichkeiten, während das Scheitern in der endgültigen Festlegung auf eine Wirklichkeit besteht – wie zum Beispiel in schlechten Anagrammen. Deshalb wird die Probandin im letzten Experiment die Stahlhülse von innen verschließen.

Fein zerstäubte Materie

Das 22-minütige Hörstück „Eskapismus“, das auf einer rezitativen Performance basiert, setzt das Thema der „Streifenreduktion“ in gewisser Weise fort. Der Soundtrack des Komponisten Bertram Dhellemmes verbindet beide Stücke. Auch wenn aus der Probandin hier die Protagonistin Yuchi Li geworden ist, geht es um das Verschwinden. Denn Yuchi Li hat ihren Vertrag mit der Textproduktionsfirma H-Sync gekündigt – und so wird ihre Persona gelöscht. „Derart unvorbereitet wie Ex-Yuchi-Li ist zuvor kaum jemand ins Feld gekrochen. Anscheinend hatte die gegenwärtig Nicht-Existente das Kleingedruckte doch übergangen. Als Konsequenz vollzog sich ihre Auflösung mit ausgesprochener Härte“, heißt es im Hörspiel.

Während die Probandin bei der „Streifenreduktion“ in einen Möglichkeitsraum entfloh, so wird die Ex-Yuchi Li zu fein zerstäubter Materie, die von H-Synch wiederbelebt oder neu zusammengesetzt werden kann. Und das geschieht auch mittels einer KI-Drohne, die sich „Oumelker 68“ nennt und „unbekannte Linearitäten“ erkunden will. Basierend auf einem vierzeiligen Gedicht („Die Rinde des Birnbaums /Im Winter wärmt / Dein Atem das Bild / Meiner vergängliche Liebe“) halluziniert diese KI von Kationen, Anionen, einem Element 786 und kondensiert schließlich aus dem Hintergrundrauschen eine Neo-Yuchi unter einem mit einer Neo-Rinde versehenen Neo-Birnbaum mit einer vergänglichen Neo-Liebe.

Damit ist „Eskapismus“ genau komplementär zur „Streifenreduktion“ konstruiert. Beide Stücke handeln von Black Boxes, in die nicht hineingeschaut werden kann. Die Welt der „Streifenreduktion“ ist berechenbar, aber nicht beobachtbar. In der Welt des Hörspiels „Eskapismus“ ist hingegen das Ergebnis, die Neo-Yuchi, beobachtbar – während ihre Generierung nicht nachvollzogen werden kann. In den Stücken von Ines Birkhan werden beide Phänomene sinnlich fassbar.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 22.05.2025

 

 

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#Eskapismus #InesBirkhan #Kunstradio #Ö1 #ORF #Streifenreduktion

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Leonhard RabensteinerLR@graz.social
2023-06-19

"Landscape Soundings": 1990 übertrug Bill Fontana live Klänge aus der Hainburger Au nach Wien.
Nun haben Adina Camhy und Katrin Euller einen Remix der Aufnahmen erstellt, in den sie Aufnahmen von Klimaprotesten einfließen ließen:

oe1.orf.at/programm/20230618/7

Noch eine Woche nachhörbar!
#Ö1 #Radiokunst #Kunstradio

RadiokritikRadiokritik
2023-02-23

Im 59. Manifest "Flächenmensch Flächenmensch die Welt" von FALKNER (@falkner7) begibt sich die Hauptfigur (Mavie Hörbiger) in die Isolation eines zukunftlosen Innenraums. , @oe1
, .
hoerspielkritik.de/in-zukunfts

RadiokritikRadiokritik
2023-02-23

In ihrem 59. Manifest "Flächenmensch Flächenmensch die Welt" begibt sich die Hauptfigur (Mavie Hörbiger) in die Isolaioin eines zukunftlosen Innenraums. , @oe1, hoerspielkritik.de/in-zukunfts

2023-01-17

Happy Art's Birthday! Our #RadioArtZone Roundabout show for ORF #Kunstradio has filtered down to some podcast portals and is e.g. available here:
podcast.de/episode/599510516/r

2023-01-04

100 days of radio art edited down to 52 minutes will be broadcast this Sunday at 22:05 on #ORF #Ö1 #Kunstradio. A perfect entry point to the sonic world of #RadioArtZone: oe1.orf.at/programm/20230108/7

Radio Art Zone logo with 100 vertical coloured lines representing the 100 days of broadcasting
RadiokritikRadiokritik
2022-10-02

Beim ORF-Radio scheint man gerade an seiner Selbstabschaffung zu arbeiten. Wegen eines Betrages, der nicht einmal reicht um eine Intendantinnen-Etage zu renovieren soll auch u.a. das @oe1 weggespart werden, schreibt der @derStandardat:
derstandard.at/story/200013956

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