Der Experte zum Korea 737 Crash
In Ausnahmefällen, wenn ein Kommentar inhaltlich so schwerwiegend ist, dass er es verdient, als eigener Gast-Beitrag veröffentlicht zu werden, dann geschieht das auf Flugundzeit. Dieser Kommentar stammt von einem Kapitän und Ausbilder auf Airbus A320.
Ein Kommentar ist eine persönliche Einschätzung mit dem Wissen und der Erfahrung eines Experten und keine alleinige Darstellung von Fakten.
Dieser Unfall beschäftigt mich.
Es wird sicher noch eine ganze Zeit lang dauern, bis wir genau wissen, was passiert ist.
Außerdem möchte ich respektvoll mit meinen Kollegen umgehen. Sie sind wohl sehr plötzlich in eine rasant eskalierende Situation gekommen und haben alles versucht, das stark beschädigte Flugzeug sicher zu landen.
Warum beschäftigt mich dieser Crash?
Es ist etwa 10 Jahre her. Es war ein klarer Winterabend mit ruhiger Luft.
Wir waren auf dem ILS [Instrumentananflug] in etwa einer Nautischen Meile vor der Bahn. Mein Copilot flog. Die Bahn lag vor uns. Alles schien gut. Doch dann sah ich eine große Menge “weißer Partikel” vor uns vom Boden aufwirbeln. Ich dachte: “Es hat doch keinen Wind. Was wirbelt hier auf?” Plötzlich war es klar, es ist ein riesiger Schwarm Möwen. “Vögel”, sagen wir beide gleichzeitig.
Ich spüre, wie mein Copilot die Nase des Fliegers anhebt. Ich rufe: “Nein, nicht durchstarten!!!!!” Und greife zu den Schubhebel, um zu verhindern, dass er den Schub erhöht.
Doch er wollte nur das Cockpit über den Vögeln halten, damit die Scheiben verschont bleiben. (Die Scheiben halten sowas auch bei noch höheren Geschwindigkeiten, als im Anflug problemlos aus. Allerdings verliert man eventuell die Sicht durch die Scheiben; wegen Blut und/oder Rissen in der äußeren Lage der fünflagigen Scheibe).
Das gelingt ihm. Gleichzeitig hören wir etliche Einschläge.
Wir landen.
Es ist still im Flugzeug. Jeder hat gemerkt, dass hier etwas passiert ist. Nach einer erklärenden Ansage steigen die Gäste aus. Als die Crew den Flieger verläßt, haben die gerufenen Techniker bereits über 40 Einschläge gezählt. Mehrere der Landeklappen sind verbogen. Tote Vögel stecken im Fahrwerk.
BEIDE Triebwerke sind von jeweils mehreren Vögeln getroffen worden. Bei beiden zum Glück nur der “kalte Kreis”. Also nicht das Kerntriebwerk, sondern “nur” der Fan und die dahinter liegende Struktur.
Hätten die Triebwerke eine Schuberhöhung angenommen?
Oder wären sie dadurch komplett ausgefallen?
Vermutlich wären die Triebwerke weiter gelaufen, da ja nur der kalte Kreis betroffen war. Konnten wir das wissen? Nein!
Die Entscheidung weiter den Landeanflug fortzusetzen, war richtig. Gab es eine Crew Coordination dazu? Nein, oder vielleicht doch. Unsere Crew Coordination war unser gemeinsames Training. Es ist in unserer Firma Policy, nach einem Vogelschlag den Schub nicht zu verändern, wenn möglich. Es ist außerdem Policy, einen Anflug nicht unbedingt wegen einer abnormen Situation im Endanflug abzubrechen. Das schließt einen Triebwerksausfall ausdrücklich mit ein! Es wird auch so im Simulator trainiert.
Wir – mein Copilot und ich – hatten also aufgrund unserer Ausbildung den gleichen Plan: Da vorne ist die rettende Bahn. Da landen wir jetzt einfach! Punkt.
Warum ist es wichtig, den Schub nach einem Vogelschlag nicht zu verändern?
Eine Schubänderung führt zu einer Änderung der Drehzahl des Fans und damit zu einer Änderung der Strömung im Kompressor. Damit dort die Strömung nicht abreißt, bewegen sich die so genannten “Variable stator vanes”. Doch wenn eine dieser Vanes (Schaufel) soweit verbogen ist, dass sie sich nicht mehr drehen kann, dann drehen sich alle Vanes nicht mehr. In Folge reißt die Strömung im Kompressor ab. Das Triebwerk verliert rasant an Schub oder fällt gleich ganz aus.
Im Simulator wird in der Regel nicht trainiert, dass beide Triebwerke gleichzeitig ein Problem haben.
Es gilt bei den meisten auch als SOP (Standard Operating Procedure; Standardverfahren), dass man bei einer abnormalen Situation im Endanflug erstmal durchstartet und versucht sich zu verbessern. Vielleicht kann man das Problem ja beheben. Zumindest kann man z.B. bei einem Triebwerksausfall die Landedaten neu berechnen.
Die meisten Flugzeuge fliegen mit einem ausgefallenen Triebwerk mit einem geringeren Flap Setting (weniger weit ausgefahrene Landeklappen = weniger Widerstand) an.
Dadurch muss dann schneller angeflogen werden.
Das wiederum führt zu einer größeren, benötigten Landedistanz.
Doch was hilft einem dieses tolle Standardverfahren, wenn durch das Einleiten des Durchstarten und der damit verbundenen starken Schuberhöhung ein, oder vielleicht sogar beide, Triebwerke komplett ausfallen?
Macht das Verfahren dann Sinn?
Nein, natürlich nicht.
Genauso wichtig wie ein Standardverfahren zu kennen, ist, zu wissen, wann man es besser nicht anwendet.
Da wären wir wieder bei dem Korea Crash.
Wurde nur ein nahe liegendes Standardverfahren ausgeführt (Durchstarten), ohne die damit verbundenen Gefahren zu erkennen?
Hat sich die Crew überhaupt frei gefühlt, ein Standardverfahren zu unterlassen, oder drohen bei der Airline Sanktionen, wenn man sowas macht? (Ja, das gibt es leider. Und ja, es werden dann sinnlose Dinge gemacht, die eine Situation mitunter stark verschlechtern.)
Wie gesagt, wir wissen noch nicht genau, was da wirklich passiert ist.
Doch wenn der Vogelschlag beide Triebwerke betroffen hat, dann wäre es sehr plausibel, dass beide nacheinander ausfallen.
Das macht die Boeing 737 zum Segelflugzeug
Fahrwerk und Klappen waren da vielleicht schon wieder eingefahren. In großer Not fliegt man nun direkt zum Platz. Dort kommt man dann aber vielleicht doch mit zuviel Energie an.
Das Flugzeug schwebt lang und rutscht dann nach dem Aufsetzen fast ungebremst weiter (Metal auf Asphalt bremst nicht gut; die daneben liegende Wiese wäre besser gewesen).
Wie hätte man noch im letzten Moment die Klappen und das Fahrwerk ausfahren können?
Bei den Klappen wird es schwierig. Ohne Hydraulik und Strom (Ausfall aller Triebwerke) geht da vermutlich bei der B737 (wie bei fast allen andern Flugzeugen dieser Größe) nichts. APU (Auxiliary Power Unit, Hilfsturbine) anwerfen und deren Strom nutzen dauert mitunter mehrere Minuten.
Das Fahrwerk hingegen sollte mit zwei Handgriffen im so genannten “Freifall” manuell ausfahrbar sein.
Das ist ein Standardverfahren, das im Simulator trainiert wird. Allerdings meist nicht unter extremen Zeitdruck.
Das bedeutet, dass man der zugehörigen Standardprozedur folgend erst einmal das entsprechende Verfahren raussucht, durchliest und dann erst ausführt.
Hat man keine Zeit, dann muss es halt auswendig gehen….
Wenn man sich diesen Standardverfahren-Verstoß (zu-)traut.
Warum reite ich darauf herum?
Ich sehe in der Praxis Piloten, die von anderen Flugbetrieben zu uns kommen, die so sehr in den Verfahren “gefangen” sind, dass sie den Überblick über die Gesamtsituation verlieren.
CPT Richard de Crespigny, Kommandant von Qantas Flug QF32 – das war der A380, der beim Abflug in Singapur eine katastrophale Triebwerksexplosion hatte und trotz sehr komplexen Fehlern der gesamten Technik sicher wieder gelandet ist – setzt sich in seinem Buch “Fly!” ausführlich damit auseinander, dass Standardverfahren in gewissen Situationen nur begrenzt hilfreich sind.
Er zitiert dabei Solon, einen athenischen Staatsmann, Gesetzgeber und Dichter, der schon vor tausenden Jahren sagte:
[wörtliches Zitat von FuZ aus Respekt vor der verstorbenen Crew gestrichen und durch den folgenden Absatz umgeschrieben ersetzt:]
Richard de Crespigny kommt zu dem Schluss, dass Regeln und Standardverfahren eine sehr gute Richtlinie für mitdenkende Piloten sind, aber nicht dazu führen dürfen, dass man ihnen bedingungslos folgt.
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