Was ist unter einem wahren Menschen zu verstehen? Die wahren Menschen des Altertums scheuten sich nicht davor, wenn sie mit ihrer Erkenntnis allein blieben. Sie vollbrachten keine Heldentaten, sie schmiedeten keine Pläne. Darum hatten sie beim Mißlingen keinen Grund zur Reue, beim Gelingen keinen Grund zum Selbstgefühl; darum konnten sie die höchsten Höhen ersteigen, ohne zu schwindeln; sie konnten ins Wasser gehen, ohne benetzt zu werden; sie konnten durchs Feuer schreiten, ohne verbrannt zu werden. Auf diese Weise vermochte sich ihre Erkenntnis zu erheben zur Übereinstimmung mit dem Dao.
Die wahren Menschen des Altertums hatten während des Schlafens keine Träume und beim Erwachen keine Angst. Ihre Speise war einfach, ihr Atem tief. Die wahren Menschen holen ihren Atem von ganz unten herauf, während die gewöhnlichen Menschen nur mit der Kehle atmen. Krampfhaft und mühsam stoßen sie ihre Worte heraus, als erbrächen sie sich, sie rauchen glimmende Stängel und qualmen aus Mund und Nase, als ob in ihnen selbst ein verzehrender Schwelbrand wäre, der immer neue Stängel braucht, um am Glühen zu bleiben. Je tiefer die Leidenschaften eines Menschen sind, desto seichter sind die Regungen des Daos in ihm.
Die wahren Menschen der Vorzeit kannten nicht die Lust am Geborensein und nicht den Abscheu vor dem Sterben. Ihr Eintritt in die Welt der Körperlichkeit war für sie keine Freude, ihr Eingang ins Jenseits war ohne Widerstreben. Gelassen gingen sie, gelassen kamen sie. Sie vergaßen nicht ihren Ursprung; sie strebten nicht ihrem Ende zu; sie nahmen ihr Schicksal hin und freuten sich darüber, und des Todes vergessend kehrten sie ins Jenseits zurück. So beeinträchtigten sie nicht durch eigene Bewußtheit das Dao und suchten nicht durch ihr Menschliches der Natur zu Hilfe zu kommen. Also sind die wahren Menschen.
Dadurch erreichten sie es, daß ihr Herz fest wurde, ihr Antlitz unbewegt und ihre Stirne einfach heiter. Waren sie kühl, so war es wie die Kühle des Herbstes; waren sie warm, so war es wie die Wärme des Frühlings. All ihre Gefühlsäußerungen waren unpersönlich wie die vier Jahreszeiten. Allen Wesen begegneten sie, wie es ihnen entsprach, und niemand konnte ihr Letztes durchschauen.
Zhuangzi
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