Liberté, diversité, perversité! – Warum Kink zum CSD gehört
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Dieser Artikel ist eine aktualisierte Fassung meines alten Beitrags „Liberté, diversité, perversité! (oder Kinkstropher Street Day)“
Jedes Jahr die gleiche Debatte: Gehören BDSM, Kink und Fetisch zum CSD? Die Antwort ist eindeutig ja – und wer das bestreitet, reproduziert dieselben diskriminierenden Mechanismen, gegen die Pride ursprünglich antrat.
Das Problem: Consent als Waffe gegen queere Sichtbarkeit
Der zentrale Vorwurf gegen Kink beim CSD lautet systematisch: „BDSM benötigt Zustimmung und ich habe nicht zugestimmt, das zu sehen.“ Diese scheinbar progressive Argumentation entlarvt sich bei genauerer Betrachtung als perfide Umdeutung eines emanzipatorischen Konzepts.
Seit 2020 verstärken koordinierte Trollkampagnen wie z.B. „Operation Pridefall“ diese Dynamik gezielt. Diese auf 4chan organisierte Kampagne zielte darauf ab, durch systematische Verbreitung homophober Propaganda und gezielte Grooming-Vorwürfe gegen queere Kinkster die öffentliche Meinung zu manipulieren. Die dokumentierte Strategie ist explizit: „Graduelle Verschiebung der Diskussion“, um „Menschen dazu zu bringen, LGBTQ-Community-Mitglieder als Pädophile zu betrachten“.
Diese manipulativen Narrative finden längst Eingang in vermeintlich progressive queere Debatten. Ein aktuelles Beispiel aus 2025: Der CSD Bielefeld verlangt von Fetisch-Gruppen spezielle „Konsenskonzepte“ – eine Sonderbehandlung, die für andere Teilnehmer*innen nicht gilt. Dahinter steht die Unterstellung, Kinkster seien „besonders anfällig für sexualisierte Gewalt“. Die Linke queer spricht zu Recht von „inakzeptabler Diskreditierung“.
Während Bielefeld diskriminiert, stellt der CSD Remscheid klar: „Fetisch gehört zum CSD und zur queeren Community. Solange Gesetze und Regeln eingehalten werden […] ist Platz für alle, die stolz und frei auf die Straße gehen.“ Und Köln feiert 2025 explizit mit Xtreme! und anderen Fetisch-Events als integralen Bestandteil der Pride-Woche.
Historische Kontinuitäten: Von Transvestiten-Gesetzen zu modernem „Consent-Shaming“
Die Instrumentalisierung des Consent-Begriffs gegen queere Sichtbarkeit folgt einer bewährten Strategie: Bereits die US-amerikanischen Anti-Transvestiten-Gesetze argumentierten, das Tragen geschlechtsuntypischer Kleidung sei strafbar, weil die Öffentlichkeit dem nicht „zugestimmt“ habe. Gegen genau diese Logik rebellierten die Menschen bei Stonewall 1969 – ein Aufstand, an dem Kinkster, Fetischisten und Lederträger zentral beteiligt waren.
In Deutschland manifestierte sich diese Logik in §175 StGB besonders perfide: Der Paragraph diente nicht nur der direkten Kriminalisierung, sondern auch „als Rechtfertigung für Überwachung und Polizeirazzien an Schwulentreffpunkten, ebenso für das Führen von Rosa Listen“. Die Hamburger Polizei observierte jahrelang schwule Männer „durch einen Spezialspiegel“, um sie nach §175 anzuzeigen – staatliche Voyeure, die ihre Gewalt durch vermeintlichen „Schutz der Öffentlichkeit“ legitimierten.
Die Lederdaddys: Queere Fürsorge in Zeiten staatlicher Gewalt
Wenn heute ein 70-jähriger Lederdaddy stolz seine Lederpride-Flagge schwenkt, trägt er die Geschichte einer Generation mit sich, die während der AIDS-Krise nicht nur mit staatlicher Vernachlässigung, sondern mit aktiven Vernichtungsfantasien konfrontiert war. Während in Bayern diskutiert wurde, „HIV-Positive in Lager zu verfrachten“, bildeten Leder Communities und „Dykes on Bikes“ Ersatzfamilien für Sterbende, die von ihren biologischen Familien verstoßen worden waren.
Diese Fürsorgearbeit geschah nicht trotz, sondern wegen ihrer „Andersartigkeit“. Die Leder Community entwickelte bereits in den 1950ern Codes der Erkennung – Bandanas, Hanky-Codes, spezifische Kleidung – als Überlebensstrategie in einer feindlichen Umgebung.
Pride als radikale Existenzfeier
Pride wurde von „Kinkstern, Fetischist*innen, gender non-conforming, queeren Menschen“ gegründet, nicht von „desinfizierten schwulen Männern“ (Original: „desinfected gay men“). Brenda Howard, Mitorganisatorin des ersten Christopher Street Liberation Day 1970, war „jüdisch, behindert, Sexarbeiterin, Kinksterin“ – ihr Slogan: „Bi, Poly, Switch – ich bin nicht gierig, ich weiß, was ich will.“ (Origina: „Bi, Poly, Switch – I’m not greedy, I know what I want.“)
1973 wurden Stonewall-Aktivist*innen von assimilationistischen Schwulen ausgebuht – aus Sylvia Riveras legendärer „Y’all Better Quiet Down“-Rede stammt die bis heute gültige Kritik an der Vereinnahmung radikaler queerer Politik durch bürgerliche Normalisierungsbestrebungen.
Systemanalyse: Kommerzialisierung als Disziplinierungsinstrument
Die Debatte um Kink beim CSD ist kein kultureller Konflikt, sondern Ausdruck struktureller Machtverhältnisse. Sponsoren wie PayPal oder Deutsche Bank haben ein materielles Interesse an „sauberen“ Prides – dieselben Institutionen, die Sexarbeiter*innen systematisch von Finanzdienstleistungen ausschließen.
CSD-Veranstalter*innen internalisieren diese Zwänge und schaffen präventiv „sichere Umfelder“ für Konzerne. Das Ergebnis: sanitized Pride, die ihre eigenen historischen Wurzeln verleugnet.
Die Selektivität der Empörung: Strukturelle Queerfeindlichkeit entlarven
Warum erregt queere Lederkleidung beim CSD Anstoß, während dieselbe Kleidung in heteronormativen Kontexten (Clubs, Werbung, Film) als „normal“ gilt? Diese Selektivität entlarvt das wahre Problem: Nicht die Kleidung ist das Problem, sondern ihre Träger*innen.
Die systematische Verknüpfung von queerer Kink-Sichtbarkeit mit Grooming-Vorwürfen – ein Kernbestandteil von „Operation Pridefall“ – funktioniert nur, weil sie an tiefsitzende queerfeindliche Stereotype anknüpft. Diese false-flag operations nutzen die Verunsicherung queerer Communities aus, um interne Spaltungen zu vertiefen.
2022 bezeichnete die Rapperin Katja Krasavice Kinkster beim Berliner CSD als „Perverse“ und „Pädophile“, die „ihre ekelhaften, perversen Fantasien ausleben“ wollen. Ihre Hetze fand breite mediale Aufmerksamkeit und zeigt, wie manipulative Narrative selbst von queeren Personen internalisiert und reproduziert werden. 2024 griff eine breit diskutierte YouTube-Debatte um die Transfrau PersiaX diese Argumentationsmuster erneut auf, wobei erstmals sichtbar wurde, wie ein „diverses und wahrscheinlich mehrheitlich heterosexuelles Publikum“ auf diese Themen reagiert.
Doppelte Standards: Der allgegenwärtige Hetero-Voyeurismus
Wenn ich durch die Stadt gehe, konfrontiert mich permanent sexualisierte Werbung, ob ich will oder nicht. 30% der Frauen werden in der Werbung sexualisiert dargestellt – eine Omnipräsenz, gegen die niemand „Consent-Verweigerung“ geltend macht. Ich sehe auf Bildern von Hetero-Partys, wie queere Ästhetik zur Party-Kleidung wird: Ledergeschirr „ist inzwischen eher in Kostümläden als in Sexshops zu finden“. Da hat mich auch niemand gefragt, ob ich das sehen will.
Aber wenn ich als queerer Mensch dieselbe Kleidung trage, die Heteros für ihre Partys appropriiert haben, betreibe ich angeblich „Grooming“. Die Initiative „Werbemelder*in“ dokumentierte systematisch, wie „sexistische Werbung aus der Wirtschaft“ den öffentlichen Raum dominiert – allein 2019 gingen 120 Beschwerden über geschlechterdiskriminierende Werbung beim Deutschen Werberat ein.
Heteros dürfen jeden Quadratmeter öffentlichen Raums sexualisieren, queere Ästhetik für ihre Events kommodifizieren und ihre Körper zur Schau stellen – aber queere Sichtbarkeit wird sofort pathologisiert. Diese Doppelmoral entlarvt das wahre Problem: Es geht nicht um „Kinderschutz“, sondern um die Kontrolle queerer Körper und die Aufrechterhaltung heteronormativer Hegemonie.
Consent richtig verstanden: Gegen instrumentalisierten Kinderschutz
Der manipulative Verweis auf „die Kinder“ reproduziert klassische Ausgrenzungsnarrative. Kinder existieren beim CSD nicht im luftleeren Raum – sie sind mit Eltern da, die für altersgerechte Erklärungen zuständig sind. Die Forderung, queere Sexualität aus der Öffentlichkeit zu verbannen, weil Kinder sie sehen könnten, ist strukturell identisch mit den Argumenten gegen jede queere Sichtbarkeit überhaupt.
Echter Kinderschutz würde diese Kinder vor queerfeindlicher Indoktrination schützen, nicht vor der Erkenntnis, dass Menschen verschieden leben und lieben.
Fazit: Kink als integraler Bestandteil queerer Befreiung
Kink gehört zum CSD, weil Kink zur queeren Geschichte gehört. Wer das bestreitet, sollte sich ehrlich fragen: Will ich Pride als Feier queerer Befreiung – oder als Scharade für die Anerkennung durch eine Gesellschaft, die uns nur akzeptiert, wenn wir uns selbst verleugnen?
Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, ob Pride ein Akt der Rebellion bleibt oder zur Folklore einer Bewegung wird, die ihre eigenen Kämpfer*innen vergessen hat.
Den Titel verdanke ich @der_zaunfink. Lest auch seinen Blog.
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