Erinnerungs-Plattform: Wem gehört das Erinnern?
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Beim Gedenken des rassistischen Anschlags von Hanau standen besonders die Todesopfer im Vordergrund. (Quelle: KA)Hanau, Halle, München, aber auch Dortmund, Solingen, Nürnberg. Was sie verbindet: Es sind Tatorte rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Und sie stehen für ein zentrales Problem: den Umgang mit rechter Gewalt – vor allem im Gedenken. Obwohl die Amadeu Antonio Stiftung seit der Wiedervereinigung über 219 Todesopfer rechter Gewalt dokumentiert, wird bislang nur 92 von ihnen offiziell gedacht. Ohne das zivilgesellschaftliche Engagement von Angehörigen, Überlebenden und Aktivist*innen wären viele von ihnen in keiner öffentlichen Form sichtbar.
Im Fall des NSU waren es die Angehörigen der Ermordeten, die früh auf ein rassistisches Tatmotiv hinwiesen – Jahre bevor sich das NSU-Kern-Trio selbst enttarnte und sich der Staat endlich dazu durchringen konnte, von rechter Gewalt zu sprechen. „Es ist ein mühseliger Kampf gegen das Vergessen und Konsequenzen bleiben meist aus“, so Ali Şirin, Sozialwissenschaftler und Antirassismus-Trainer. Was häufig noch immer fehlt, ist die Anerkennung. Die Anerkennung, dass Gewalttaten aus menschenfeindlichen Motiven, wie Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit etc. begangen wurden.
Die Grenzen des institutionellen Erinnerns
Zwar wollen die Deutschen qua Historie und der daraus resultierenden Verantwortung Erinnerungs-Weltmeister sein, doch das gesellschaftliche und das institutionelle Erinnern stößt recht schnell an Grenzen – nämlich dort, wo es für die Mehrheitsgesellschaft unbequem wird. Deswegen bleiben die Reden zu den Gedenk-Jahrestagen gerne bei wohlklingenden, aber hohlen Phrasen.
Das institutionelle Gedenken hat einige Schwächen: Es ist oft unwillig, strukturelle Zusammenhänge zu benennen, es ist häufig unpolitisch und manchmal schlicht uninformiert. Dabei gibt es seit Jahrzehnten Initiativen, die erinnern, die aufklären, die konfrontieren. Seit den 1990er Jahren organisieren sich Überlebende und Angehörige rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Was früher punktuell begann, ist heute ein wachsendes Netzwerk. Und seit 2023 wird dieses Netzwerk durch das Projekt „Selbstbestimmt vernetzen, erinnern und bilden“ (SVEB) systematisch unterstützt.
Das Modellprojekt SVEB in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung stärkt diese Arbeit. Es vernetzt durch Unterstützung der Bundesbeauftragten für Antirassismus elf lokale Initiativen, schafft Sichtbarkeit und strukturelle Unterstützung. Es zeigt: Erinnerung ist politisch – und sie gehört den Betroffenen. Sie sollen über ihr Erinnern bestimmen dürfen.
Dabei sind diese elf geförderten Initiativen Teil eines größeren Netzwerkes, das „Solidaritätsnetzwerk der Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“. Wie groß dieses Netzwerk ist, welche Bedarfe es hat und welche Forderungen es stellt, macht nun eine neue Website von SVEB deutlich: www.selbstbestimmt-erinnern.de
Newroz Duman: „Kontinuität des Widerstands“
Newroz Duman, Sprecherin der Initiative 19. Februar Hanau sagte am Donnerstag auf einem Pressegespräch zur Vorstellung der neuen Website: „Wir sehen eine Kontinuität des Widerstands der betroffenen Organisation – seit Jahrzehnten.“ Es sind jahrzehntelange Kämpfe um Aufklärung, Anerkennung und Konsequenzen. „Diese Kämpfe kamen immer von unten und waren nur mit Verbündeten möglich.“ Stets waren die Engagierten ehrenamtlich aktiv und auf Spenden angewiesen. „Durch SVEB wurde diese Arbeit endlich vom Bund und der Amadeu Antonio Stiftung unterstützt. Leider ist es aber kein Projekt auf Dauer, sondern für drei Jahre begrenzt und soll nächstes Jahr enden.“
Noch immer wird von institutioneller Ebene und Medien viel zu häufig ausgeblendet, dass Betroffene nicht nur leidtragende, sondern auch Expert*innen ihrer eigenen Geschichte sind. Viel zu lange wurden ihre Perspektiven ignoriert, ihre Stimmen übergangen. Die neue Gedenk-Website www.selbstbestimmt-erinnern.de setzt dem etwas entgegen: Partizipativ entwickelt, mit den Stimmen derjenigen, die zu oft überhört wurden. Die Website wurde am 24. April vorgestellt.
Mit der Plattform selbstbestimmt-erinnern.de entsteht nun ein digitales Erinnerungsarchiv, das den Blick endlich weitet: Biografien von Betroffenen, vielfältige Gedenkformen, über 30 Jahre Kämpfe gegen das Vergessen. Bewusst wird hier auf Täter-Sprache und Namensnennung von Tätern verzichtet. Die Website will Erinnerungslücken schließen und Leerstellen sichtbar machen. Konzipiert und gestaltet ist die Plattform von Betroffenen. Anna Warda, Projektleiterin von SVEB: „Wir haben die Bedarfe der Initiativen und ihrer Unterstützer sehr ernst genommen und in den Mittelpunkt gestellt. Anhand dessen haben wir die Inhalte der Website entwickelt. Sie ist nicht fertig, Inhalte werden immer neu hinzugefügt.“ Erinnern darf nicht top-down funktionieren. Erinnern muss partizipativ, politisch und empowernd sein.
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