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27. Oktober 2003 steht als Kapitelüberschrift, als Motto, als was weiß ich auf dem weißen Deckblatt des Gedichtbandes Zeit von Etel Adnan. Jetzt, 22 Jahre später, als ich den Band zum zweiten Mal lese, denke ich bei diesem Datum daran, dass mein Sohn damals gut 9 Monate alt war. Wie lange man kaum eine Vergangenheit hat und dann auf einmal ist da nur noch Vergangenheit. Solche Mengen von Vergangenheit, dass die Vorstellung von Zukunft davon verschüttet wird.
Das erste Gedicht, das dem Datum folgt, ist perfekt. Danach gibt es für mich nichts mehr zu sagen. Danach kann ich kein Wort mehr schreiben, das standhalten würde.
Ich wünschte ich könnte die Dinge nacheinander tun. Aufhören zu schreiben, um den Band zu Ende zu lesen. Aufhören zu lesen, um einen Text zu Ende zu schreiben. Reihenfolgen einhalten. Mich selbst aus dem pathetischen Sumpf des Selbstmitleids ziehen.
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen überlieferten Geschichten und Ausgeburten einer Einzelfantasie schreibt Anne Cotton (in den Trierer Poetikvorlesungen). Dieser Satz scheint mir wichtig genug, um ihn zu notieren. Was davon ich wie verstehe, weiß ich nicht. Es wäre richtig, das herauszufinden. Aber ich habe weder Kraft noch Geduld. Oder vielleicht vertraue ich darauf, dass sich der Sinn irgendwann von selbst offenbaren wird. Ohne weiteres Zutun von mir.
Ich lese Bücher über notwendige Strafrechtsreformen, ich lese Bücher über Untersuchungen zu Haftschäden, ich telefoniere mit Justizvollzugsanstalten, ich melde mich für eine Fachtagung an, die sich mit der Rolle von Ehrenamtlichen in der Unterstützung von Inhaftierten und ihren Angehörigen beschäftigt. Ich erfahre immer wieder wie wenig die Würde der Strafgefangenen geachtet wird, ich erlebe immer wieder Ohnmacht gegenüber einer Justiz, die Menschen, sobald sie sie als Täter markiert hat (und das geschieht sehr schnell, häufig schon während der Untersuchungshaft, wenn noch keine Schuld bewiesen und eigentlich die Unschuldsvermutung gelten müsste), anders behandelt als „normale“ Menschen. Gleichzeitig lese und höre ich, wie sich der deutsche Kanzler einfach über ein unanfechtbares Urteil erhebt. Es gibt Spielräume, behauptet er und agiert weiter wie zuvor. Weist Menschen zurück, die laut unanfechtbarem Urteil nicht zurückgewiesen werden dürfen. Nicht auf die Art. Nicht so. Aber es ist ihm egal.
Ich denke an meine Spielräume. Spielräume als Mutter. Ich denke an meine Söhne. An die Spielräume, die sie haben. Die vielleicht größer wären, besser, komfortabler, wenn ich nicht eine so minderwertige Mutter gewesen wäre. Ich denke daran, was ich versäumt habe. Ich denke daran, dass ich mich um mich selbst kümmern muss. Dass ich ihnen das vermutlich nie vorleben konnte, nicht beibringen konnte, wie man sich gut und angemessen um sich selbst kümmert.
Ich denke daran, dass es unmöglich ist irgendetwas zu heilen, bevor man sich die Wunde wirklich angesehen hat. Von allen Seiten, mit all ihren schmerzhaften Auswirkungen. Bevor man sie anerkennt und aushält. Ich denke an Joseph Beuys und sein Zeig deine Wunde. Wir lernen die Dinge zu reparieren, nach einem Schicksalsschlag schnell wieder auf die Beine zu kommen, zügig wieder voll funktionstüchtig zu sein. Darum lassen wir diesen Schritt aus. Das Ansehen und Anerkennen und womöglich sogar Zeigen der Wunde. Darum habe ich diesen Schritt eigentlich mein Leben lang ausgelassen. Bin über die Wunde hinweggegangen. Habe versucht die Auswirkungen zu beheben. Mich zu optimieren. Habe jedem Coach geglaubt und jedem Artikel, der mir erklärte, wie ich mich selbst zu einer besseren Version machen kann. Natürlich bin ich gescheitert. Und habe das nicht verstanden. Ich habe gelernt, dass die Zeit alle Wunden heilt. Ich habe gelernt, dass das Leid der anderen wichtiger ist, größer und ernster. Ich habe später auch gelernt, dass es häufig ausreicht, das Leid der anderen anzuerkennen, es wahrzunehmen und gemeinsam auszuhalten, dass das häufig wertvoller ist, als diesem Reflex nachzugeben, alles wieder gut zu machen, zu beschwichtigen und das Gegenüber mit guten Ratschlägen zu taktieren. Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich mich selbst ebenso behandeln sollte. Dass ich mich ernst nehmen darf. Dass ich mir und allen eingestehen darf, dass ich jetzt erschöpft bin, dass ich keine Kraft mehr habe. Dass ich aufgegeben habe und leide. Dass ich am Boden liege. Ebenso wahrhaftig wie pathetisch. Dass ich erst wieder aufstehen werde, wenn ich wenigstens ansatzweise begriffen habe, was mich niedergeschlagen hat.
#EtelAdnan #Mutter #Spielräume #Wunde #Zeit