Helsinki macht Verkehr planmäßig weniger lebensgefährlich
In Helsinki ist die Vision Zero, also null getötete Menschen im Straßenverkehr, für ein Jahr tatsächlich Realität geworden. Zwischen Juli 2024 und Juli 2025 starb kein einziger Mensch bei Unfällen auf den Straßen der finnischen Hauptstadt. Im August war es dann vorbei mit der glücklichen Periode, gleich zwei Menschen starben bei Verkehrsunfällen. Somit wird in den üblichen Kalenderjahres-Statistiken zur Verkehrssicherheit dieser Erfolg bei der menschengerechten Umgestaltung der Straßen nicht so deutlich zu erkennen sein.
Dennoch schlagen sich Helsinkis konsequente und langjährige Bemühungen, den Straßenverkehr zu zivilisieren, auch in den Statistiken nieder. Der dortige Verkehrsplaner Roni Utriainen berichtet bei einem Online-Vortrag des Deutschen Instituts für Urbanistik, der Forschungs- und Fortbildungseinrichtung der deutschen Kommunen, über die Maßnahmen, mit denen die Todesrate im Verkehr deutlich reduziert werden konnten. Gerechnet pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner liegen sie inzwischen sichtbar unter den Berliner Werten. Eine Aufzeichnung des englischsprachigen einstündigen Webinars, das im Rahmen des Mobilitätsforums Bund stattfand, ist online verfügbar.
Entwicklung der Verkehrstoten pro 100.000 Einwohner in Berlin und Helsinki von 2000 bis 2024 im Vergleich. Angaben zu Datenquellen und Berechnungsmethode im Fließtext.
Lange lagen die Werte zwischen Helsinki und Berlin bei den Verkehrstoten pro 100.000 Einwohner*innen etwa gleichauf. Erst seit 2018 liegen sie in Helsinki signifikant unter den Berliner Werten.
Entwicklung der Verkehrstoten pro 100.000 Einwohner in Berlin und Helsinki von 2014 bis 2024 im Vergleich. Angaben zu Datenquellen und Berechnungsmethode im Fließtext.
Um eine bessere Vergleichbarkeit und eine Tendenz abbilden zu können, haben wir für den Wert des jeweiligen Jahres mit denen der vorhergehenden vier Jahre addiert und diese Zahl jeweils durch fünf geteilt. Also ist der in der Tabelle angegebene Wert für 2024 ein Fünftel der addierten Werte von 2020 bis inklusive 2024. Für 2023 sind es die Werte von 2019 bis inklusive 2023. Damit sollen die jährlichen starken Schwankungen bei Verkehrstoten ausgeglichen werden. Ausreißer nach oben oder unten in einzelnen Jahren verstellen aber den Blick auf die Tendenz. Für Berlin entstammen die Zahlen zu Verkehrstoten und Bevölkerungsstand der einzelnen Jahre der amtlichen Statistik des Landesamtes für Statistik Berlin-Brandenburg. Für Helsinki stammen die Angaben zu jährlichen Verkehrstoten von der städtischen Verkehrsbehörde, die jährliche Bevölkerungszahl von Helsinki stammen von der nationalen finnischen Statistikbehörde.
Dieser Erfolg beruht auf mehreren Maßnahmen: Großflächige Ausweisung von Tempo 30, dem sicherheitsorientierten Umbau der Straßeninfrastruktur für Rad- und Fußverkehr sowie einer konsequenten und flächendeckenden Überwachung von Tempo- und Parkverstößen. Allesamt Maßnahmen, die von den zuständigen Senatorinnen Ute Bonde (CDU, Verkehr) und Iris Spranger (SPD, Inneres) aktiv ausgebremst, zurückgedreht oder passiv nicht vorangebracht werden. Dazu kommen noch viele unwillige Bezirke, die entsprechende Maßnahmen im Nebenstraßennetz, für das sie zuständig sind, unterlassen oder ausbremsen.
„Unser langfristiges Ziel ist es, die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten zwischen 2010, 2020 und 2030 zu halbieren. Wir haben in diesem Programm außerdem festgelegt, dass wir uns auf die Sicherheit von Kindern, Jugendlichen, Fußgängern und Radfahrern konzentrieren“, sagt Roni Utriainen.
55 Menschen starben im Jahr 2024 bei Verkehrsunfällen in Berlin, so viele wie seit vielen Jahren nicht mehr. Höher lag die Zahl zuletzt im Jahr 2016, als 56 Menschen starben. 2023 lag die Zahl in Berlin mit 33 Menschen deutlich niedriger. 2022 waren es 34 Menschen und 40 im Jahr 2021. Dies sind die Zahlen des Statistischen Landesamts Berlin-Brandenburg. Im laufenden Jahr sind bis 16. September laut einer Liste des VCD Nordost bereits 29 Menschen getötet worden.
Vier Menschen verloren in Helsinki im Jahr 2024 ihr Leben im Verkehr, ein Jahr zuvor waren es sechs Menschen. 2021 und 2022 starben sechs, beziehungsweise fünf Menschen.
Die absoluten Zahlen zu vergleichen wäre unlauter. Denn Helsinki zählt ohne Umland knapp 700.000 Bewohnerinen und Bewohner, während in Berlin rund 3,7 Millionen Menschen leben. Aufschlussreich sind die Zahlen jedoch, wenn sie in Relation gesetzt werden.
Pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner gab es in Helsinki 2024 rund 0,6 Verkehrstote. Im selben Jahr waren es in Berlin rund 1,5 Verkehrstote pro 100.000 Einwohner. 2023 lagen beide Städte mit einem Wert von 0,9 gleichauf. 2022 lag der Wert für Berlin bei 1,1, für Helsinki bei 0,7.
Tempo 30
„Geschwindigkeitsbegrenzungen sind eines der wichtigsten Dinge im Zusammenhang mit Verkehrs- und Geschwindigkeitsplanung im Hinblick auf die Verkehrssicherheit“, so Utriainen. Auf Nebenstraßen und auf fast allen Straßen im Stadtzentrum gilt Tempo 30. Auf Hauptstraßen und einigen anderen Straßen darf 40 oder 50 Kilometer pro Stunde gefahren werden. „Die Idee dahinter ist, dass Autofahrer die Hauptstraßen nehmen, anstatt durch Wohngebiete zu fahren“, erläutert der Verkehrsplaner.
Entwicklung der Tempolimits in Helsinki
Seit 2025 wird auch im Umfeld von Schulen Tempo 30 auf Hauptstraßen eingeführt. „Ziel dieser Maßnahme war es, Unfälle in der Nähe von Schulen zu vermeiden, insbesondere Kinder und die neue Verkehrssicherheit zu fördern und sie dazu zu ermutigen, in die Schule häufiger zu Fuß zu gehen und mit dem Fahrrad zu fahren“, sagt Utriainen.
Sichere Querungen
Zudem sei auch festgelegt worden, wie sichere Straßenquerungen für den Fußverkehr aussehen müssen. Als sicher gilt Tempo 30 für Autos im Bereich der Querungen. „Aber es sind auch einige verkehrsberuhigende oder bauliche Maßnahmen erforderlich, um sicherzustellen, dass die meisten Fahrzeuge nicht schneller als 30 km/h fahren“, so Utriainen weiter. Ein Beispiel seien durchgängige Gehwege an Zebrastreifen. „Das bedeutet, dass Autos den Gehweg überqueren und nicht Fußgänger die Straße“, erläutert er.
Verkehrsberuhigung
Auf Nebenstraßen mit wenig Kraftfahrzeugverkehr und niedrigen Geschwindigkeiten gibt es in der Regel keine separate Radinfrastruktur. Neben niedrigen Tempolimits „sollten verkehrsberuhigende Maßnahmen ergriffen werden, um das Radfahren auf Nebenstraßen ohne separate Radwege sicher und einfach zu gestalten“, sagt Utriainen.
Kreuzungen sicherer gestalten
In Helsinki werden auch Kreuzungen und andere Gefahrenstellen betrachtet, insbesondere jene, wo es bereits gehäuft zu Kollisionen zwischen dem Radverkehr und anderen Verkehrsteilnehmenden gekommen ist. Beispielsweise an einer Kreuzung einer Haupt- und einer Nebenstraße, bei der in die Hauptstraße einbiegende Autofahrende oft Radfahrende anfuhren, die entlang der Hauptstraße fuhren. Nun darf der Autoverkehr nicht mehr von der Neben- in die Hauptstraße einbiegen. „Das hat die Sicherheit für Radfahrer deutlich verbessert“, sagt Utriainen. Aber leider sei eine solche Lösung nicht an jeder Kreuzung möglich.
Worauf man in Helsinki übrigens nicht setzt, sind getrennte Ampelphasen. Dabei handelt es sich um Ampelschaltungen, bei der verschiedene Verkehrsströme – wie geradeausfahrender Rad- und Kfz-Verkehr – zu unterschiedlichen Zeiten Grünlicht erhalten, um Kollisionen zu vermeiden und die Sicherheit zu erhöhen, insbesondere bei Rechtsabbiegern. Obwohl viele Verkehrsverbände diese befürworten, sind die Meinungen dazu durchaus gespalten. Denn die dadurch deutlich verlängerten Umlaufphasen verlängern die Wartezeit auf Grün auch für Fuß- und Radverkehr. Das kann zu neuen Gefahren führen, weil die als überlang empfundene Rotphase ignoriert wird.
E-Scooter regulieren
Stark eingegriffen worden ist in Helsinki auch bei der Regulierung der E-Scooter. Zusammen mit den Betreibern habe man zahlreiche Beschränkungen eingeführt, was zu einer deutlichen Reduzierung von verletzten E-Scooter-Fahrenden geführt habe. In Wochenendnächten dürfen E-Scooter überhaupt nicht mehr genutzt werden, „Denn wir haben festgestellt, dass gerade an Wochenenden die meisten E-Scooter-Verletzungen auftreten“, begründet Utriainen den Schritt.
Zudem sei die Höchstgeschwindigkeit tagsüber auf 20 und nachts auf 15 Kilometer pro Stunde reduziert worden. In der Innenstadt und weiteren belebten Bereichen dürfen E-Scooter nur noch auf dafür ausgewiesenen Flächen geparkt werden. Landesweit ist in Finnland eine Altersgrenze für die E-Scooter-Nutzung eingeführt worden. Wer jünger als 15 Jahre ist, darf sie nicht mehr nutzen.
Tempolimits kontrollieren
Und schließlich ist auch die Kontrolle der Einhaltung der Verkehrsregeln ein wichtiger Baustein im Verkehrssicherheitskonzept von Helsinki. 50 stationäre Blitzer sind in Helsinki installiert, weitere 20 sollen in den nächsten Jahren hinzukommen. Sie überwachen neben Geschwindigkeitsübertretungen auch Rotlichtverstöße und die widerrechtliche Nutzung von Busspuren.
In Berlin sind 47 Blitzer aufgestellt, hinzu kommen sieben Blitzanhänger sowie 17 mit entsprechender Technik ausgerüstete Fahrzeuge der Polizei. Hochgerechnet auf die Einwohnerzahl müsste Berlin für die gleiche Kontrolldichte wie Helsinki 269 fest installierte Blitzer haben und die Aufstellung von 108 weiteren Blitzern planen.
Dass Kontrollen wirken kann Utriainen auch mit Zahlen belegen. Vor Aufstellung der Blitzer überschritten an den entsprechenden Orten fast jeder achte Autofahrende (11,6 Prozent) das Tempolimit um mehr als zehn Kilometer pro Stunde. Danach tat dies nur knapp jeder 20. Autofahrer (5,2 Prozent). Eine Reduktion um 56 Prozent.
Die verstärkte Kontrolle wirkt sich stadtweit aus. An Kontrollpunkten jenseits der Blitzerstandorte übertraten vor dem Ausbau 7,5 Prozent der Autofahrenden das Tempolimit um mindestens zehn Kilometer pro Stunde, danach waren es noch 6,7 Prozent, immerhin zehn Prozent weniger. Die niedrigeren Werte im Vergleich zu den Blitzerstandorten erklären sich dadurch, dass sie dort aufgestellt werden, wo gehäufte und oder besonders drastische Verstöße festgestellt werden.
Falschparken sanktionieren
Und nicht zuletzt ist auch Falschparken eine Gefahr für die Verkehrssicherheit. Falschparkende zwingen zu Fuß gehende und Radfahrende in gefährliche Situationen und verstellen Blickachsen. Die Verstöße werden in Helsinki flächendeckend und effizient verfolgt mit Scancars. Während Baden-Württemberg mit einer Landesregelung voranschritt, weil man dort nicht auf die entsprechende Bundesregelung warten wollte, legt auch hier die Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) die Hände in den Schoß.
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