Ăber den Charakter von Politikerinnen und Politiker.
Wer gerechte, nachhaltige, gemeinwohlorientierte, d.h. einfach gute Politik haben möchte, der braucht vor allem eines: gerechte, nachhaltig lebende, an Gemeinwohl interessierte, d.h. einfach gute Politikerinnen und Politiker. So simpel ist es: Gute Politik braucht gute Politikerinnen und Politiker.
Wenn mich mein Eindruck nicht trĂŒgt, interessiert sich die Politikwissenschaft seit lĂ€ngerem recht wenig fĂŒr diese individuelle Seite der Politik: fĂŒr die QualitĂ€ten bzw. â traditionell formuliert â fĂŒr die Tugenden und Laster der einzelnen politischen Akteure; und fĂŒr die konkreten politischen (und finanziellen) Folgen, die aus dem Handeln tugendhafter oder lasterhafter Politikerinnen und Politiker fĂŒr das Gemeinwesen erwachsen.
Bei dem Politik- und Rechtswissenschaftler Jeremy Waldron liest man bspw. das PlĂ€doyer, man mĂŒsste sich in der Politikwissenschaft mehr mit den politischen Institutionen und weniger mit den Tugenden und Lastern der politischen Akteure befassen (Jeremy Waldron 2013: Polititical Political Theory: An Inaugrual Lecture, in: Journal of Political Philosophy, Jg. 21, Nr. 1, 1-23). Es ist gewiss nicht verkehrt, sich mit politischen Institutionen zu beschĂ€ftigen und z.B. die Frage zu beantworten, wie wir welche Institutionen bauen mĂŒssen, um eine Demokratie und damit ein MindestmaĂ an Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit langfristig ĂŒberlebensfĂ€hig zu machen. So entstehen dann zentrale Ăberlegungen zum Rechtsstaat, zur Gewaltenteilung, zu den Rechten von Minderheiten, zur Rolle von parlamentarischer Opposition usw.
In der normativen politischen Theorie wird sehr viel um Fragen von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit gerungen. Im Gefolge von Immanuel Kants Diktum, die Staatserrichtung möge so gedacht werden, dass sie auch fĂŒr ein âVolk von Teufelnâ möglich sei (Immanuel Kant 1795/1992: Zum ewigen Frieden, Hamburg: Meiner, 79), beschĂ€ftigt man sich grundlegenden Prinzipien und Gedankenexperimenten. Namen wie John Rawls, JĂŒrgen Habermas und andere fallen dann hĂ€ufig. Leider fallen diese Gedankenexperiment nicht selten sehr abstrakt und alltagsfern aus. Wenn ich mich nicht tĂ€usche, wird dagegen kaum nĂ€her hingeschaut, mit welchen konkreten âEngelnâ und âTeufelnâ wir es im politischen Alltag zu tun haben und was diese tugendhaften oder auch lasterhaften Gestalten aus unserem Gemeinwesen machen (wollen).
Folgende Fragen scheinen mehr als berechtigt: Bekommen wir es derzeit nicht vorgefĂŒhrt â u.a. in den Vereinigten Staaten â dass Institutionen und Staatwesen nur so âgutâ sind, wie die Personen, die in diesen Institutionen handeln, âgutâ sind? Dass gegen lasterhafte Personen an der Spitze eines Staates, einer Partei, einer Bewegung institututionelle Arrangements nur sehr bedingt helfen? Dass gegen die destruktive Energie lasterhafter Politikerinnen und Politiker nur eines wirkmĂ€chtig hilft: die konstruktive Energie tugendhafter Personen, die an einflussreicher Stelle Widerstand und Gegenrede gegen das lasterhafte Handeln leisten?
NatĂŒrlich kann eine Frau, die ihren Kindern eine gute Mutter ist, eine lasterhafte, weil böswillige, gierige, usw. Politikerin sein. Und ein Mann, der seinen Nachbarn ein zuvorkommender Nachbar ist, kann dennoch schlechte, weil rassistische und fremdenfeindliche Politik betreiben. Aus den tugendethischen Debatten ist bekannt, dass Menschen je nach Kontext unterschiedlich tugend- bzw. lasterhaft handeln. Daher hat sich auch die Einsicht etabliert, dass wahrhaft nur jene Person als tugendhaft gelten kann, von der wir âsituationsĂŒbergreifendâ tugendhaftes Handeln erwarten können (Christoph Halbig 2013: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 97). Auch ein netter Nachbar kann ein lasterhafter Politiker sein. Auch eine gute Mutter, kann fremdenfeindliche Rassistin sein. Tugendhafte Politikerinnen und Politiker sind nicht fehlerfrei; sie versuchen aber, âsituationsĂŒbergreifenendâ gerecht zu handeln, fried- und freiheitsliebend, gemeinwohlorientiert.
FrĂŒher gab es sogenannte FĂŒrstenspiegel, die den herrschenden Personen vermitteln sollten, wie sie zu handeln haben und welche Haltung sie in ihrem politischen Tun und Lassen anleiten sollte. Auch heute gibt es Ă€hnliche Formate der politischen Gewissenserforschung (vgl. u.a. JĂŒrgen Manemann 2013: Wie wir gut zusammen leben können, Ostfildern: Patmos). Mir gefĂ€llt auch, was der konservative Politiker Nigel Nicolson in den 1950er Jahren ĂŒber die notwendigen, situationsĂŒbergreifenden QualitĂ€ten angehender Mitglieder des Parlaments in Westminster schrieb. Nicolsons QualitĂ€ten bzw. Tugenden eines Parlamentariers sind spĂŒrbar aus dem politischen Alltag und aus eigener Erfahrung heraus formuliert. Zu den politischen Tugenden gehören fĂŒr Nicolson:
- âenergy and good temperâ
- âordinary politenessâ
- âaverage gift of concealing boredomâ
- âgood humourâ
- âcapacity for relating names to facesâ
- ârespectâ, also: ânot only good manners, but interest and concernâ
- âcuriosity about other peopleâ
Und die zentrale Untugend eines Politikers benennt Nicolson als âan unwillingness to listen to contrary argument, and an obstinate clinging to a point of view which, to his own satisfaction, he has utterly demolishedâ.
(Alle Zitate in: Nigel Nicolson 1958: People and Parliament, London: Weidenfeld and Nicolson, 44-46.)
Nicolson weist seine Leserinnen und Leser darauf hin, dass es bei den politischen QualitĂ€ten gar nicht unbedingt um groĂ klingende Tugenden wie Gerechtigkeit und Demut geht. Nicolson wĂŒrde die Wichtigkeit dieser Tugenden sicher nicht verneinen; trotzdem fĂ€ngt er mit den niedrig hĂ€ngenden FrĂŒchten an und zwar bei der FĂ€higkeit des politischen Personals zum aufmerksamen Zuhören, zur ungefĂ€lschten Neugier, zum ehrlichen Interesse. Ein Politiker bzw. eine Politikerin muss sich also im ersten Schritt einer, ich nenne es mit Simone Weil, interpersonalen âAufmerksamkeitsanstrengungâ unterziehen, um in einem zweiten Schritt Gerechtigkeit und Wahrheit zu erkennen und aus dieser Erkenntnis in einer konkreten Situation heraus zu handeln. (vgl. Simone Weil 1943/2009: Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien, ZĂŒrich: diaphanes, 23).
Wer Politiker ins Amt hebt, die nicht zuhören wollen; die nur ihre eigene Meinung bzw. nur die Meinung ihres Clans gelten lassen; die auf Kritik mit Drohungen und (verbaler) Gewalt antworten; die zudem die Armen Ă€rmer und die Reichen reicher macht, der muss sich nicht wundern, wenn es mit dem politischen Gemeinwesen bergab geht. Tugenden sind ansteckend, Laster sind es aber auch. Die Politik eines demokratisch verfassten Landes ist nur so gut, wie die Politikerinnen und Politiker es sind, die wir wĂ€hlen. Klug gebaute Institutionen können bei der Etablierung tugendhafter Politik helfen, unterstĂŒtzen. Sie können aber kaum dauerhaft ein Gemeinwesen vor lasterhaften und böswilligen Individuen bewahren.
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