#folge47 #KeinerVonDenen
Unternehmensberater verdienen Mitgefühl. Zumindest bekommen sie das von Buddy Müller. Nicht zuletzt, weil sich diese Spezies gern an Themen versucht, für die ihr mindestens eine zwingend benötigte Eigenschaft fehlt.
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Man kennt mich weitläufig dafür, dass ich mich hingebungsvoll dem Führungskräftenachwuchs widme. Nichts ist im Arbeitsleben im Allgemeinen und im Agenturleben im Besonderen komplexer als das Führen von Menschen und von Teams, die die Menschen manchmal freiwillig, manchmal erzwungenermaßen bilden.
„Vor allem Lang und Länger können das bestätigen“, sagte Brad MacCloud vom Clan der MacClouds. Mein MacBook Pro und ich verstehen uns – meistens. Aber immer, ohne dass es meine Umwelt mitbekommt.
Lang und Länger, das sind unsere beiden Volontäre. Der eine arbeitet immer lang, der andere noch länger.
Ein aufrichtiger Beweis meiner väterlichen Zuwendung ist, wenn ich die beiden nach einer erneut durchgearbeiteten Nacht am folgenden frühen Morgen, also gegen 10 Uhr, höflich bitte, mir erstmal einen Kaffee zu bringen.
„Kaffee!“, sage ich laut.
Meist schaut Lang kaum von seinem Bildschirm hoch, hebt nur den Zeigefinger von der Tastatur und deutet stumm hinüber zu Länger.
Delegieren kann er.
Während Länger aufspringt und lossprintet, um mir einen Kaffee aus unserer Siebträgermaschine im Wert eines Kleinwagens zu holen.
„Heute hätte ich gerne einen Lungo Bandolero“, rufe ich ihm nach, „aber zweifach gemahlen!“
Tagelöhner, Tagessätze
Eine gänzlich andere Klasse an Nachwuchstalenten, zumindest halten sie sich dafür, treffe ich jeden Morgen kurz vor ihren Altersgenossen Lang und Länger.
Mein Weg in die Agentur führt mich nämlich direkt vorbei an einem Glas-Beton-Stahl-Bau, der von einer Unternehmensberatung in ein historisches Tagelöhnerviertel mitten in München gesetzt wurde.
In ein Viertel, in dem vor noch nicht mal hundert Jahren, in der guten alten Zeit, die alles andere als gut war, Brauereiarbeiter und Wäscherinnen, Maurer und Mägde, aber auch Dirnen und Luden und anderes zwielichtiges Gesindel auf engstem Raum ihre Arbeitsstätte und Unterkunft hatten.
„Unternehmensberater passen doch gut dazu“, sagte Brad.
Vielleicht sei es wirklich ganz und gar nicht unpassend, sinnierte ich, denn Unternehmensberater würden auch für einen Stunden- oder Tageslohn arbeiten, subsumiert zu Tagessätzen, die es ihnen erlaubten, die in den ehemaligen Tagelöhnervierteln noch ansässigen Künstler durch den Erwerb diverser Exponate in die Lage zu versetzen, die exponentiell steigenden Mieten wenigstens noch für ein Quartal begleichen zu können.
Die Exponate, die häufig wie in Bronze gegossene psychedelische Erfahrungen aussahen, standen meist im Empfangsbereich der Unternehmensberatungen.
Vor dem Empfangsbereich, draußen auf der Straße, standen Berater.
Scrollen, rauchen, Kaffee trinken
Meist standen da vor allem junge, ausgezehrte, mitleiderregende Geschöpfe. Die Anstrengungen der vergangenen Nächte waren ihnen ins Gesicht geschrieben. Dabei schafften sie sicher acht Stunden Schlaf – in einer Arbeitswoche.
Nacht für Nacht zementierten sie ihr Wissen in Präsentationen, 100, 200, 300 Charts. Weil sie daran glaubten, viel hilft viel, auf jeder einzelnen Seite bis an den Seitenrand wie im Gesamtumfang vom der Gliederung bis zu den „Next Steps“.
Da reihten sie sich nun auf, in ihren weißen Hemden und blauen Anzugshosen und rauchten. Die weiblichen Exemplare trugen weiße Blusen, schwarze Röcke. Gerade noch klapperten ihre Tastaturen, jetzt klapperten die Knochen vor Übermüdung in der Morgenluft.
Alle, männlich, weiblich, divers hatten ihre Sakkos in den Büros gelassen. Alle hatten Handys dabei. Alle scrollten sich durch ihre E-Mails. Alle rauchten. Alle taten alles gleichzeitig, als wäre dies der endgültige Beweis ihrer Multitaskingfähigkeit.
Und: Alle hatten einen Grüßreflex.
Gruß der Übernächtigten
Diesen Reflex löste ich aus, immer dann, wenn ich an ihnen auf meinem Weg in die Agentur vorbeiging.
Ave Consultant, die Übernächtigten grüßten mich.
Als wäre ich einer von ihnen.
Mit einem respektvollen Nicken, einem lautlos gemurmelten „Guten Morgen“, mit einem anerkennenden Blick, kollegial, quasi von Consultant zu Consultant, doch mit Respekt, als hielten sie mich für einen Ranghöheren, einen Senior oder einen Partner gar.
Anfangs dachte ich, das dezente Grau, das altersgemäß meine Schläfen fein durchzog, löse den Grußreflex aus. Oder mein bestimmter Blick.
Aber das war es nicht. Auch nicht mein forscher Schritt.
Im konsequenten Selbstversuch fand ich es heraus.
Dunkles Sakko, Einstecktuch und Edel-Chino etwa führten zum sofortigen Nicken. Tags darauf, Extreme Casual Friday, ein markenloses Polohemd und verwaschene Bluejeans, lösten zunächst Verwirrung aus. Erst als der Blick an meiner Tumi-Tasche und noch tiefer bei meinen Chelsea-Boots angekommen war, entschieden sie sich sicherheitshalber zum Morgengruß.
Filzkrawatte: Guten Morgen!
Dann, ich hatte mich für einen Kundenbesuch herausgeputzt, mittelblauer Anzug, dunkle Filzkrawatte, brauner Gürtel, braune Monks, wäre ich beinahe in eine offengehaltene Tür gerannt.
„Guten Morgen“, grüßte mich der bleiche Beraternachwuchs, der mir rund 60 Kilo Glas und Stahl zum Haupteingang aufgezogen hatte.
„Guten Morgen“, grüßte ich zurück, versicherte ihm mit einer Handbewegung, dass ich weitermusste. Ich war schon an ihm vorbei, da drehte ich mich – einer Eingebung folgend – zu ihm um.
„Wie geht es Ihrem Projekt?“, fragte ich.
Der übermüdete Jungberater kam ins Hudeln. Rauchen, Kaffeetrinken, auf dem Handy E-Mails checken, die schwere Tür aufhalten und antworten, das war zu viel.
Er entschied sich, die Tür ins Schloss fallen zu lassen und eine Hand in die Hose stecken.
Die mit dem Handy.
Und der Zigarette.
Genauso schnell wie die Hand in der Tasche war, war sie wieder heraus. Die Kippe wurde ausgedrückt, das Handy erneut verstaut.
„Nur Dean Martin konnte gleichzeitig rauchen, trinken und singen“, kommentierte ich.
„Dean wer?“
„Lass mich raus“, quengelte Brad in meiner Tasche. „Ich will auch Berater schauen!“
„Dean Martin war der Prinzipal, der das Italien-Amerika-Geschäft aufgebaut hat“, sagte ich mit einer Spur an Selbstverständlichkeit in der Stimme. „Also, was macht Ihr Projekt?“
Für jemanden, der die ganze Nacht wohl eine Monsterpräsentation geklopft hatte, war der Consultant erstaunlich frisch. Er haute die Gemeinplätze flink raus. Die Marketingabteilung bei einem Autozulieferer müsse von Grund auf erneuert werden, verkrustete Strukturen, Familienbetrieb, ein Mittelständler halt auf dem Sprung zur Internationalisierung, aber mitten in der Krise, Fachkräftemangel, Bürokratie, einschneidende Maßnahmen und so, ich verstünde schon, was er meine, nicht wahr? Dann könne man mit neuen Marketingprogrammen Kurs auf den Weltmarkt nehmen.
Irgendwas mit Content
Ich verstand ihn. Natürlich. Ich erinnerte mich an die Beraterschar, die einem meiner früheren Chefs die Belegschaft wegsaniert hatten. „Zehn Prozent weniger sind immer drin“, das war ihr Standardsatz gewesen (von dem auch so mancher unserer Kunden leidgeprüft zu berichten wusste).
„Zehn Prozent“, sagte ich zum übermüdeten Beraternachwuchs, „zehn Prozent weniger sind immer drin. Aber überraschen Sie mal Ihren Kunden: nicht zehn Prozent seiner Mitarbeiter kürzen. Fangen Sie mal mit Ihren eigenen Tagessätzen an.“
„Bitte“, quengelte Brad, „ich will ihn sehen!“
Der Beraternachwuchs betrachtete mich mit wachsender Verwunderung.
Was mich richtig in Fahrt brachte: „Strengen Sie sich ein bisschen an. Setzen Sie auf bewährte Kräfte. Kürzen kann jeder.“
Sein Handy brummte. Verlegenheitsblick, dann: „Ich muss dann wieder …“
„Eins noch“, sagte ich. „Sie erwähnten ‚neue Marketingkonzepte‘? Irgendwas mit Inhalten?“
Er nickte zögerlich. Und versuchte, mir zu entkommen. Das Handy brummte zwei-, dreimal.
„Sie wollen wirklich was mit Content machen?“, fragte ich ihn. „Und sicher auch irgendwas mit KI?“
Er nickte, heftiger, nun begleitet vom dauerbrummenden Device.
Ich trat zu ihm hin, blickte ihm lange in seine rotgeränderten Augen und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Ich fühle mit Ihnen.“, sagte ich.
Und dann ließ ich ihn stehen.
Heute keinen Bandolero
„Ich hätte ihn so gerne gesehen“, beklagte Brad sich später. „Warum tut er dir leid?“
„Ach, Brad“, seufzte ich, „um eine Strategie zu entwickeln, braucht man eine Menge theoretisches Wissen.“ Um eine Strategie in die Tat umzusetzen, fuhr ich fort, brauche es Mut und Können, weswegen sich nur wenige Berater dieser Herausforderung stellten.
„Wenn Du aber mit Inhalten arbeitest“, sagte ich, „dann braucht es Seele.“
Brad schwieg nachdenklich.
In der Agentur fand ich Lang und Länger vor – sie waren entweder gestern wieder lang geblieben oder heute schon länger da. Sie sahen müde aus. Wie wild hackten sie auf ihre Notebooks ein; Lang erbat sich erhobener Hand Schweigen, brummte „geile Story, bin gleich fertig“, während Länger aufspringen und zur Siebträgermaschine eilen wollte.
„Guten Morgen, Herr …, äh, Buddy, ja das werden wirklich sehr, sehr gute Geschichten, die wir da recherchiert haben, bestechende, überraschende Storylines, Protagonisten, die nur wir haben, wenn ich das so sagen darf, aber Zeit für einen Kaffee muss sein, wieder einen Bandolero, zweimal gemahlen?“
Ich winkte ab.
„Lass mal. Ihr beide schreibt Eure Geschichten fertig“, sagte ich. „Um den Kaffee kümmere ich mich.“
„Es braucht Seele“, sagte Brad MacCloud in meiner Aktentasche. „Ich habe verstanden.“
Den Junior Consultant habe ich übrigens nie wieder gesehen. Seine Kollegen haben mich auch nie mehr gegrüßt.
Ich bin doch keiner von denen.
Auch für Agenturmenschen gelten Binsen wie „Kleider machen Leute“. Zum Glück machen Kleider allein keine Consultants.
Von denen gibt es schon recht viele: Allein in Deutschland drängeln sich rund 230.000 Unternehmensberater in den engen Fluren ihrer Auftraggeber. Oder sie stehen eben vor dem Firmensitz und frieren sich wach in der Morgenkühle.
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